Ein Stück weit utopisch
Von Sabine Kebir
Nach dem Ende der Apartheid erhielten alle Südafrikaner gleiche Bürgerrechte, aber Misstrauen und Angst zwischen schwarzen und weißen Südafrikanern blieben. Zwischen 1996 und 1998 leistete eine Wahrheits- und Versöhnungskommission (WVK) zur Ermittlung von Menschenrechtsverbrechen einen nicht zu überschätzenden Beitrag zur Verringerung der Spannungen. Die Autorin und Richterin Clivia von Dewitz beschreibt die Arbeit dieser WVK und lotet aus, inwieweit diese Erfahrung in anderen Konflikten nutzbar war bzw. nutzbar wäre.
Die WVK orientierte sich am Konzept der »Restorative Justice«, einem Vorgehen, das der Strafjustiz vorgeschaltet oder in sie integriert sein kann: Opfer und Tatbeteiligte bekommen die Möglichkeit, freiwillig gemeinsam an der Konfliktlösung mitzuwirken. Letztere müssen sich zur Tat vollumfänglich bekennen und zu Entschuldigung und Entschädigung bereit sein. Wichtig für eine WVK ist, dass Verbrechen aller Konfliktparteien bearbeitet werden. Für vertrauliche Vorgespräche mit den Opfern muss ein würdevoller und empathischer Rahmen geschaffen werden. Zu klären ist, ob es zu moderierten persönlichen Begegnungen kommen kann. Da Retraumatisierungen verhindert werden sollten, fanden die in Südafrika nur selten statt.
Die Täter hatten Aussicht auf individuelle Amnestie, soweit sie zu umfassender Aussage und Entschuldigung bereit waren. Strafprozesse und die Aufrechterhaltung der Strafandrohung bewogen etwa 7.000 Täter zu einem Amnestieantrag. Die WBK muss unabhängig sein und braucht strafrechtliche Befugnisse. Sie muss Menschen vorladen, Räume durchsuchen und Beschlagnahmungen veranlassen können. Nichtbefolgung ihrer Weisungen muss strafbewehrt sein. Besser als einmalige Entschädigungen für Opfer seien Renten, Gesundheitsversorgung, Ausbildungshilfen für Kinder.
Ein Teil der Anhörungen in Südafrika war öffentlich. Von entscheidender Bedeutung war die breite tägliche Berichterstattung in den Medien, wodurch auf nationaler Ebene historisches Lernen und Versöhnungsprozesse möglich wurden. Strafjustiz und staatliche Wiedergutmachungen allein bringen das viel weniger zustande. Im Sinne eines Ubuntu-Sprichworts kann eine WVK zur Heilung von Brüchen, zum Ausgleich von Ungleichgewichten und zur Wiederherstellung zerbrochener Beziehungen beitragen.
Der Erfolg der südafrikanischen WVK beruhte allerdings auch darauf, dass sie auf dem politisch-moralischen Gewicht Desmond Tutus und Nelson Mandelas aufbaute. Zu bedenken ist außerdem, dass die südafrikanische WVK, indem sie auf die Bearbeitung von Verbrechen beider Konfliktparteien orientierte, die Erlaubnis des Völkerrechts unbeachtet ließ, gegen anhaltende Diskriminierung notfalls auch mit Gewalt zu kämpfen. Da sich die WVK jedoch als gesellschaftlich produktiv erwies, haben die Südafrikaner ein besonders großes Bewusstsein für Menschenrechte entwickelt. Dieses Bewusstsein ist historisch verwurzelt in der Art, wie der ANC über Jahrzehnte den Widerstand gegen die Apartheid organisierte: gewaltlos, mit Massenboykotten und Streiks. Der geplante Übergang zum bewaffneten Kampf war durch die Verhaftung der Führungsgruppe des ANC 1963 verhindert worden; der militärische Arm kam später kaum zum Einsatz, weil der Kampf auf politischer Ebene national und international vorankam.
Bei den meisten aktuellen Konfliktszenarien ist gerade das nicht der Fall. Ob und wann WVKs in Form von »Friedenskommissionen« auch in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen wie dem seit 2014 bewaffnet ausgetragenen Konflikt in der Ukraine möglich sind, bleibt fraglich. Der ehemalige Richter am Verfassungsgericht Südafrikas, Albie Sachs, hält es im Epilog zum Buch »für verfrüht, der Wahrheitskommission in einem künftigen Friedensprozess eine Rolle zuweisen zu wollen«, was hieße, »das Pferd von hinten aufzuzäumen«. Zuerst müssten der Krieg beendet und Regeln ausgehandelt werden, »wie diese zwei bedeutenden Länder mit starken historischen Bindungen wieder als gute Nachbarn nebeneinander leben können«. Im Buch unberührt bleibt die Frage, ob WVKs im Palästina-Konflikt eine Rolle spielen könnten. Die von der Autorin gemachten Vorschläge sind ein Stück weit utopisch, aber immerhin eine Anregung zur Humanisierung von Konflikten.
Clivia von Dewitz: Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung? Zur südafrikanischen Wahrheitskommission und deren Übertragbarkeit auf den Ukraine-Konflikt. Westend, Frankfurt am Main 2024, 176 Seiten, 24 Euro
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