Unverzichtbarer Widerstand
Von Matthew Read
Am Morgen des 16. Juni 1976 strömten rund 20.000 Schulkinder in Soweto, einem Township im südafrikanischen Johannesburg, auf die Straßen. Sie protestierten gegen die Einführung von Afrikaans – der Sprache der weißen Siedlerkolonialisten – als Unterrichtssprache an schwarzen Schulen. Obwohl sie friedlich durch die Stadt liefen, rückten bald mehr als 1.500 Polizisten des Apartheidregimes an. Sie sprangen aus Fahrzeugen der Firma Daimler-Benz und hetzten Hunde auf die Demonstranten, bevor sie mit Gewehren und Pistolen aus der BRD das Feuer eröffneten. Hunderte von Schulkindern wurden getötet und Tausende weitere verwundet.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren westdeutsche Waffen kein seltener Anblick in der sogenannten dritten Welt. Sie befanden sich in den Händen der Reaktionäre in Chile, der portugiesischen Kolonisten in Afrika und der zionistischen Truppen im besetzten Palästina und Libanon. Es war aber auch keine Seltenheit, dass diese Kräfte auf Widerstand trafen, der vom anderen Deutschland, der DDR, bewaffnet und ausgebildet worden war.
Die militärische Unterstützung des sozialistischen Lagers für nationale Befreiungsbewegungen spielte eine entscheidende Rolle beim Durchbrechen der Kolonialherrschaft im 20. Jahrhundert. Eine genaue Bezifferung des Umfangs dieser Solidarität ist schwierig, aber allein für den Zehnjahreszeitraum von 1973 bis 1983 gab das Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR rund 700 Millionen Mark für die unentgeltliche militärische Unterstützung der ehemaligen Kolonien und Befreiungsbewegungen aus.
Doch die Entscheidung, »nichtzivile Güter« zu liefern, wurde in Berlin nicht leichtfertig getroffen. Grundsätzlich wurde der Einsatz militärischer Mittel im Kampf gegen die Kolonialherrschaft als legitim erachtet. Moskau und Berlin distanzierten sich aber von der linksradikalen Verabsolutierung des »Volkskrieges« und wollten sich nicht einseitig auf bewaffneten Kampf beschränken. Dort, wo diplomatische Bemühungen gescheitert waren, musste die Waffe taktisch eingesetzt werden, um den politischen Druck auf die Kolonialmächte zu erhöhen.
Anfängliches Zögern
Zu Beginn der 1960er Jahre begannen zahlreiche afrikanische Befreiungsbewegungen, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Nach dem Massaker von Sharpeville im Jahr 1960 gab der Afrikanische Nationalkongress (ANC) seinen gewaltfreien Ansatz auf und gründete einen paramilitärischen Flügel. In den portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik gingen die Volksbewegung für die Freiheit Angolas (MPLA) und die Befreiungsfront für Mosambik (Frelimo) 1961 bzw. 1964 in den bewaffneten Kampf. Die antikolonialen Kräfte in Rhodesien und Namibia folgten 1966 diesem Beispiel.
Delegationen dieser Bewegungen bereisten regelmäßig Länder des sozialistischen Lagers, um militärische Unterstützung zu erbitten. Obwohl Moskau den Verdacht hegte, dass nicht selten ein maoistischer Einfluss hinter der Aufnahme eines bewaffneten Kampfs steckte, stimmte die KPdSU 1964 der militärischen Unterstützung für die Frelimo zu. Ein Jahr später begannen auch Bulgarien und die ČSSR, Waffen an die Frelimo zu liefern. Doch trotz mehrfacher Ersuchen aus Mosambik, Angola, Südafrika und Rhodesien schloss sich die DDR zunächst ihren sozialistischen Brüderländern nicht an.
Das anfängliche Zögern Berlins spiegelte eine allgemeine politische Zurückhaltung der SED gegenüber deutschen Waffenlieferungen ins Ausland wider. Nach dem Vernichtungskrieg des deutschen Faschismus war man äußerst vorsichtig in dieser Frage. Immer wieder wurden Delegationen von Befreiungsbewegungen in Berlin herzlich empfangen, doch wenn es um die Bitte um militärische Unterstützung ging, blieb die SED abgeneigt.
Für die DDR war die Frage nach Waffenlieferungen um einiges heikler als für die anderen sozialistischen Staaten. In Ländern wie Mosambik oder Angola hätten sich Waffen aus beiden deutschen Staaten direkt gegenübergestanden. Große Mengen an überschüssigem Bundeswehr-Material gingen nämlich Anfang der 1960er an den NATO-Verbündeten Portugal, darunter Waffen und Militärflugzeuge. Zusätzlich wurde das portugiesische Militär von der westdeutschen Industrie mit Neuprodukten beliefert, darunter Kriegsschiffe und Geländefahrzeuge. In dieser Zeit beschränkte die DDR ihre Unterstützung auf zivile Güter und paramilitärische Ausrüstungsgeräte wie Zelte oder Außenbordmotoren. Verwundete Kämpfer wurden auch mit ostdeutschen Medikamenten und medizinischem Gerät behandelt.
Doch Anfang 1967 kam der Wendepunkt. Nachdem 1965 und 1966 mehrere Beschlüsse abgelehnt worden waren, fällte das Politbüro der SED am 10. Januar 1967 eine Grundsatzentscheidung über Waffenlieferungen und beschloss die Möglichkeit der »Lieferung nichtziviler Güter an nationale Befreiungsbewegungen in Afrika«. Die Entscheidung wurde zweifellos von den Delegationen aus Afrika und Kuba beeinflusst, die weiterhin auf die Unvermeidbarkeit des bewaffneten Widerstands hinwiesen, aber vermutlich hatte die SED auch die verschärften Kämpfe in Afrika und Asien im Blick. Nach einer großen Welle der nationalen Befreiung zu Beginn der 1960er Jahre hatte der Imperialismus Mitte des Jahrzehnts eine Gegenoffensive gestartet. In Vietnam hatten die USA die Zahl ihrer Truppen hochgefahren, und in Indonesien und Ghana schlug die Konterrevolution gegen antiimperialistische Regierungen zu, was von der DDR eine gesteigerte Aktivität verlangte.
Hin zum zentralen Akteur
Mit der Grundsatzentscheidung wurden sogleich die ersten konkreten Lieferungen beschlossen. Die Frelimo wurde dabei priorisiert, gefolgt von Bewegungen in Rhodesien, Angola und Guinea-Bissau. Es handelte sich zunächst um Schützenwaffen und dazugehörige Munition sowie Schützenminen und Stahlhelme. Erst nach dem 24. Parteitag der KPdSU im Jahr 1971 organisierte das sozialistische Lager eine systematische Arbeitsteilung bei der militärischen Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen. Die DDR sollte sich dabei auf technisches Fachwissen und die Lieferung anspruchsvollerer Ausrüstung konzentrieren. Ab diesem Punkt nahm die militärische Unterstützung des sozialistischen Lagers rasch zu.
Mit der neuen Stärke, die sie durch ihr Bündnis mit den sozialistischen Staaten gewonnen hatten, konnten die Frelimo und die MPLA mehr und mehr Gebiete ihrer Länder befreien. Die damit verbundene Überlastung des portugiesischen Militärs führte schließlich zur Nelkenrevolution im April 1974, in deren Folge die afrikanischen Kolonien Portugals endlich befreit wurden. Im südlichen Afrika ging der Kampf gegen die Apartheid und den Siedlerkolonialismus jedoch weiter. Nach dem Massaker in Soweto 1976 entschied sich die SED, die Militärausbildung von Antiapartheidkämpfern zu organisieren. Bis 1988 wurden über 1.000 ANC-Mitglieder in Mecklenburg heimlich ausgebildet und anschließend nach Südafrika zurückgeschmuggelt.
DDR-Waffen waren auch außerhalb Afrikas zu finden, in den Händen junger Soldaten der vietnamesischen Volksarmee, der palästinensischen Fedajin und der Kommunisten und Sozialisten Libanons. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die DDR von einem der zögerlichsten Waffenlieferanten zu einem zentralen Akteur der Militärhilfe des sozialistischen Lagers entwickelt. Ab Mitte der 1970er war das Problem eher, ob die DDR-Industrie mit der politischen Nachfrage mithalten konnte: Das Potsdamer Abkommen hatte strenge Beschränkungen für die Waffenproduktion in Ostdeutschland festgelegt. Dennoch lieferte die DDR bis zum Ende Waffen an Bewegungen wie den ANC und die SWAPO, obwohl die UdSSR unter Gorbatschow ihre eigenen Operationen heruntergefahren hatte.
Friedliche Koexistenz
Nach Auffassung der SED stand die Bewaffnung der nationalen Befreiungsbewegungen nicht im Widerspruch zum Prinzip der friedlichen Koexistenz. Die Partei hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip nicht auf den antikolonialen Kampf übertragen werden könne, »weil es sich hierbei um völlig andere gesellschaftliche Beziehungen handelt«. Berlin betonte zwar die Notwendigkeit, politische Lösungen zu finden, sah aber in der militärischen Hilfe ein Mittel, um die nationalen Befreiungsbewegungen bei ihren Verhandlungen mit dem Gegner zu stärken.
Die Ereignisse nach 1990 haben diese Annahme nur bestätigt. Nachdem sie ihre engsten Verbündeten im antikolonialen Kampf verloren hatten, machten einige Befreiungsbewegungen erhebliche Zugeständnisse, um die Konflikte mit ihren Kolonialherren zu beenden. 1993 wurde beispielsweise durch eine ausgehandelte Machtübergabe die Apartheid in Südafrika zwar abgeschafft, aber die sozioökonomischen Strukturen der weißen Macht wurden dabei nicht beseitigt. Im selben Jahr stimmte die PLO den Osloer Verträgen – dem »palästinensischen Versailles«, wie Edward Said es nannte – zu.
Mit Formulierungen wie »Honeckers Afrikakorps« versuchen bürgerliche Historiker, die Unterstützung der DDR für bewaffnete Befreiungsbewegungen zu verdrehen, um eine Gleichsetzung mit dem faschistischen Deutschland herzustellen. Abgesehen von der Tatsache, dass NVA-Einheiten niemals zum Kampf im Ausland eingesetzt wurden, stand das sozialistische Deutschland ausdrücklich auf der anderen Seite des Klassenkampfes. Nicht unter deutscher Flagge, sondern unter dem Banner der nationalen Befreiung kamen DDR-Waffen in Afrika und Asien zum Einsatz.
Matthew Read ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Internationalen Forschungsstelle DDR (IF DDR).
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