Enzyklopädische Revolution
Von Dean Wetzel
Im Jahr 1750 begannen Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert und über 100 weitere Autoren mit der Arbeit an der »Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaft, Künste und Handwerke«, die zwischen 1751 und 1780 erschien. Unabhängig von Kirche und Hof sollte das aufgeklärte Wissen in einer verzahnt ineinandergreifenden Form gesammelt werden, um den gesellschaftlichen, insbesondere den technischen Fortschritt der Menschheit zu fördern. In Luise Meiers Debütroman »Hyphen« lebt der Enzyklopädismus nun unter einem anderen Vorzeichen erneut auf.
Nachdem 2025 das erste Mal das Stromnetz und mit diesem die Waren- und Geldströme weltweit zusammenbrechen, reagieren die Menschen darauf nicht in apokalyptischer Panik, sondern mit einer organischen Umstrukturierung der hinfälligen Organisationsformen. Da gesellschaftlich relevante Arbeit sowie die Sorge- und Informationsnetzwerke nicht mehr über Geld als allgemeines Äquivalent organisiert werden können, sind die Menschen nun gezwungen, aufeinander zuzugehen und eine kommunikationsbasierte Überlebensstrategie zu entwickeln. Eine Überlebensstrategie, die sich nach zwei weiteren Zusammenbrüchen des Stromnetzes zum gut funktionierenden, gar kommunistischen Alltag mausert – pointiert zusammengefasst: »Sowjetmacht minus Elektrifizierung.« Und so beginnen sich die Menschen auch ohne Internet wieder miteinander zu vernetzen.
Reisende Protokollanten, zu denen auch Maja – eine der vielen Protagonisten des Romans – gehört, ziehen durchs Land, um Informationen über das neue Leben in einer Enzyklopädie zu sammeln und zu verbreiten. Diese Enzyklopädie steht aber nicht mehr im Auftrag des technischen Fortschritts, sondern der sozialen Reorganisation der ehemalig neoliberalen Gesellschaft. So werden in ihr keine ominösen Anlagetips oder persönlichkeitsentfaltenden Geheimrezepte zum individuellen Glück dargeboten, sondern Gesprächsprotokolle, Gedichte und Forschungsberichte sowie Anleitungen zur Kultivierung und Nutzung der in der Zukunft gesellschaftlich notwendigen Pilze gesammelt. Es wird aber auch darüber diskutiert, was in Namibia vorgefallen ist, was es mit den psychoaktiven Pilzen auf den Stromleitungen auf sich hat und ob die SBF (Sporenbefreiungsfront) für die Stromausfälle verantwortlich ist. Diese Enzyklopädie prägt den Roman auch formal. Immer wieder durchziehen Einträge die verflochtenen Fäden der Erzählung.
Meier skizziert eine Welt, in der der Zusammenbruch nicht den Untergang, sondern die Hoffnung mit sich bringt und fürchtet sich nicht vorm utopischen Bilderverbot. Dabei wurzelt die Handlung tief in proletarischer Ideengeschichte. Alexander Bogdanows Proletkult spielt neben den Schriften von Benjamin, Bloch, Kollontai, Lunatscharski, Luxemburg und Zetkin, um nur einige zu nennen, für die Konzeption des Romans eine zentrale Rolle. Ohne Marx wären diese und auch Meiers Roman jedoch kaum zu denken. Und so verleiht sie dem Kommunismus des jungen Marx, in dem der vollendete Naturalismus Humanismus und der vollendete Humanismus Naturalismus wird, eine literarische Form, und kommt zu einem sehr anderen, aber ebenso lesenswerten Ergebnis wie Dietmar Dath vor einigen Jahren in »Die Abschaffung der Arten«.
»Hyphen« möchte als fungale Degrowth-Utopie die Ideen des jungen mit denen des späten Marx verbinden, die Meier, ähnlich wie der marxistische Philosoph Kohei Saito, in Marx’ Brief an Wera Sassulitsch entdeckt. Eine Utopie, die aufzeigt, wie überkommen die Kategorie des Wachstums oder dessen Rückgang in Anbetracht des guten Lebens ist, und in der sich die Frage nach der aktuellen Entwicklung der Produktivkräfte verflüchtigt. In den Geflechten der titelgebenden Hyphen – die sich aus dem griechischen Wort für »Gewebe« herleiten – findet die marxistische Theorie des Gesamtzusammenhangs zu ihrer materiellen und praktischen Verwirklichung, in der sich die Gegensätze von Materie und Geist dialektisch verweben und die Menschen endlich erkennen, dass sie mit der Natur eine Einheit bilden.
In diesem umfangreichen und komplexen theoretischen Entwurf des Romans verbirgt sich aber zugleich seine Schwäche. Auch wenn dem alten Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki sicherlich nicht in all seinen Urteilen, erst recht nicht in dem über Houellebecqs »Elementarteilchen« zuzustimmen ist, so verwies er im Gespräch über diesen doch auf das zentrale Problem des Thesenromans, in dem die Literatur einer Idee untergeordnet wird. Eine Kritik, die auch schon Friedrich Engels gegenüber der Tendenzliteratur hervorbrachte. Da solch allgemein-ästhetischen Urteile sich jedoch nur im besonderen Einzelfall bestätigen oder widerlegen lassen, muss das jeweils zu betrachtende Werk in seinem eigenen Anspruch zu Rate gezogen werden.
Meier entwirft im enzyklopädisch-mykalen Erzählen eine interessante Form, die den Problemen des tendenziösen Thesenromans nicht in jeglicher Hinsicht entgegenwirkt, die in seiner literarischen Anlage diese Probleme aber stellenweise umspielt, sich über sie hinwegsetzt und traut, die utopischen Gestaltungsfähigkeiten der Literatur zu ergründen. Leider verfällt der utopische Ideenreichtum zu oft in erzählerische Konventionen und löst somit die inhaltlichen Versprechen auf der formal-literarischen Ebene nicht ein. Wenn man so viel von plastikzersetzenden Pilzen liest, hätte man gern auch die Sporen und Fruchtkörper eines literaturzersetzenden Pilzes betrachtet.
Aufgrund der essayistischen Stärken Meiers, die den Roman trotz der Kritikpunkte zu einer anregenden Lektüre gestalten, kann man sich schon auf ihre nächste Publikation freuen. Angekündigt ist ein Essay für November 2025 mit dem kämpferischen Titel: »Proletkult vs. Neoliberale Denkpanzer« (ebenfalls Matthes & Seitz Berlin). Es wird sich zeigen, ob dieser Kampf dann mit Pilzen oder ohne geführt wird.
Luise Meier: Hyphen. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2024, 303 Seiten, 25 Euro
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