Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 28.03.2025, Seite 8 / Ansichten

Jon Snow des Tages: Kapitän Giss

Von Felix Bartels
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Eins steht fest: Die Welt wäre deutlich besser, wenn wir alle etwas mehr wären wie Michael Giss

Irgendwann waren sie da. Die Jungs der Nachtwache, zerzaust von kalten Winden auf der Mauer, ausgehärtet infolge asketischer Lebensweise, der Kontinent, den sie schützen, heißt nicht Ost-, er heißt Westeros. Sie sprechen im TV oder diktieren den Zeitungen ihr »Winter is coming«. Weil sie den herannahenden Horden ins Auge gesehen haben, während wir im warmen King’s Landing die Dolce vita leben.

Im Chor des Korps decken die Offiziere die Bässe ab. Spezialisierte Politiker (Strack-Zimmermann, Kiesewetter) und politisierende Spezialisten (Neitzel, Major, Masala) besorgen die übrigen Stimmlagen. Ihr Lied von Eis und Feuer erzählt, dass Moskau plane, Europa zu überrollen, und dass die Armeen der NATO den russischen Streitkräften unterlegen seien. Befreiung von Tatsachen und Implementieren von Panik als Geschäftsmodell: Kriegstüchtigkeit braucht Kriegsbereitschaft, die Bereitschaft, Opfer zu bringen für das größte Subventionsprogramm der deutschen Rüstungsindustrie seit dem Weltkrieg, wächst diskret mit.

Es ist nicht die Stunde der Zwischentöne. So lässt zur Zeit des Kriegers Wesen sich nämlich schon im Tonfall lesen. Bei Michael Giss etwa, Kapitän zur See und Chef des Landeskommandos Baden-Württemberg. »Wahnsinnig viele Bevölkerungsteile« seien »völlig in der Friedensdividende verhaftet«, verriet er am Donnerstag der dpa. Diese Leute kennen nichts anderes als eine »friedliche, von Freunden umzingelte Welt«, und sie sollten endlich von der »Vollkasko-Denke« wegkommen. »Ich werfe es den Leuten nicht vor. Sie kennen nichts anderes.« Na, das ist doch lieb.

Immerhin brüllt er es nicht wie der Colonel Jessep. Botschaft und Haltung bleiben identisch: You can’t handle the truth! Wir taugen in zweifacher Hinsicht nicht. Indem es uns an Geheimwissen fehlt, und indem wir keine echten Männer sind.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (28. März 2025 um 07:10 Uhr)
    Diese Leute sind nicht ungebildet genug, um nicht zu wissen, dass sie uns zwingen wollen, freudig in unseren eigenen Untergang zu rennen. Wir sollten ihnen immer lauter entgegenschreien, dass wir keine Lust haben, dieses perverse Spiel mitzuspielen. Solange wir noch Luft haben zum Schreien und sie es noch nicht geschafft haben, uns den Hals zuzudrücken. Denn »wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (28. März 2025 um 00:59 Uhr)
    Michael Giss, Kapitän zur See! Auf dem Max-Eyth See? Ehmetsklinge? Michelbachsee? Katzenbachsee? Unterer oder Oberer Seewaldsee? Na gut, der Epplesee gehört auch dazu.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (28. März 2025 um 00:57 Uhr)
    »Wahnsinnig viele Bevölkerungsteile« seien »völlig in der Friedensdividende verhaftet«. Da drängen sich viele Vergleiche auf, z. B. der Geisterfahrer, der die anderen für Falschfahrer hält. Er kommt mir auch vor wie ein Feuerwehrmann, den es ärgert, dass sie so lange immer nur üben mussten und das alles nie bei einem richtigen Brand umsetzen konnten. Dass aus Kreisen der Feuerwehr aus psychologischen Gründen öfter schon Liebhaber von großen Feuern zu Brandstiftern wurden, ist ja kein Geheimnis. Die Friedensdividende gab es schon. Fragt sich nur für wen. Es hätte sie 1990 für den Normalbürger geben können. Da sich jedoch das Konkurrenzmodell »sozialistisches Lager« ab 1989 freiwillig auflöste, war damit auch im Westen das Schaufenster »Soziale Marktwirtschaft« zum Anlocken weiterer Anhänger überflüssig geworden und damit auch die nur wenige Jahrzehnte andauernde Zeit relativer Stärke der sozialdemokratischen Parteien beendet. Das neoliberale Zeitalter brach an (Zurückdrängung des Sozialstaates). Der Bundesbürger ahnte sicher nicht, dass mit dem vermeintlichen Sieg gegen die UdSSR sein eigener sozialer Abstieg begann, zunächst ganz langsam, geradezu unmerklich und bisher auch noch erträglich, falls er oder sie nicht arbeitslos wird. Doch mit der Erhöhung der Energiepreise, Mieten und Kosten des täglichen Lebens sowie ungesicherter, befristeter Arbeitsverträge und drohender Altersarmut setzte sich eine Abwärtsspirale in Gang. Dies verschärft sich nun radikal mit der auf die Spitze getriebenen Hochrüstung. Die erhoffte Friedensdividende wanderte 1990 in andere Taschen, welche die gleichen sind, die nun erneut die Kriegsdividende bei der Rüstung einfahren. Da es in Europa offensichtlich zu wenig Krieg gab, musste in der Ukraine 2014 bis 2022, vom Westen unterstützt, eben gezündelt werden, bis es dann lichterloh brannte. Und mit solchen Bemerkungen, welche eine nicht existente Bedrohung Deutschlands durch Russland suggerieren wollen, wird weiter gezündelt.

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