»Die Regierung hat ihre Legitimität verloren«
Interview: Walter Mandić
Weltweit verfolgen Medien die Massenproteste nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu in der Türkei. Wie ist die aktuelle Lage, und was ist bisher passiert?
Die neue Regierung strebt nach uneingeschränkter Macht und sucht nach Wegen, um Erdoğan den Weg zum Präsidenten auf Lebenszeit zu ebnen. Zu diesem Zweck wird versucht, die Opposition zu zersplittern. Mit der Annullierung von İmamoğlus Diplom und seiner Inhaftierung hat der Prozess eine neue Dimension erreicht. Doch egal, was die Regierung tut, sie hat in den Augen der Gesellschaft ihre Legitimität verloren.
Ist es nur die Verhaftung des Bürgermeisters, die die Menschen in der Türkei auf die Straße gebracht hat?
Die Wirtschaftskrise in der Türkei hat eine andere Dimension erreicht; während eine Umverteilung von den Armen zu den Reichen stattgefunden hat, sind alle Ressourcen des Landes von den herrschenden Kreisen geplündert worden. In dieser Zeit der größten Korruption haben die Arbeiter, Bauern, Rentner und alle Werktätigen, insbesondere die Jugend, ihre Zukunft verloren. Der Wohlstand einer Handvoll Menschen hat die soziale Ungleichheit vertieft. Genau an diesem Punkt haben AKP und MHP die Unterstützung der Mehrheit der Gesellschaft verloren. Der herrschende Block versucht nun, ein neues Machtspiel zu spielen, indem er sich die Unterstützung der USA im Nahen Osten sichert und die Opposition im eigenen Land aushebelt.
Wer sind die Menschen, die auf die Straßen gehen? Welcher politische Standpunkt ist unter ihnen vorherrschend?
Wir sehen die Hoffnung in den Augen junger Menschen, die noch keine 20 Jahre alt sind, und den Willen von Menschen über 70, die entschlossen sind, auch mit Stöcken Widerstand zu leisten. Diese Vielfalt auf den Straßen ist der größte Indikator dafür, dass das Land nicht in der Dunkelheit gefangen sein wird. Alle Werktätigen, insbesondere die Jugend, die von der bürgerlichen Politik und der traditionellen Opposition ausgeschlossen wurde, gehen auf die Straße, um ihre Zukunft einzufordern. Dies ist ein Neuanfang, bei dem die Jugend die Grenzen der bürgerlich-parlamentarischen Opposition überschreitet, indem sie auf die Barrikaden geht. Angesichts eines solchen Regimes, in dem Parlament, Verfassung und Recht vollständig abgeschafft sind und selbst Wahlen zur Show geworden sind, ist dieser Widerstand ein Aufruf zur Entwicklung eines einheitlichen Widerstands, der auf organisierten Kämpfen innerhalb des Volkes beruht.
Wie können die Gewerkschaften, Sol und andere sozialistische Parteien die Forderungen der Arbeiterklasse auf die Straße tragen?
Es ist klar, dass eine Opposition, die sich auf Parlamente und Wahlen beschränkt, nicht mehr ausreichend ist. Um die Forderungen der Arbeiterklasse auf die Straße zu bringen, ist es notwendig, diesen Kampf von den Universitäten zu den Arbeitsplätzen, von den Vierteln zu den Plätzen zu tragen und ihn zu einer vereinten Kraft zu machen. Gewerkschaften und linke Parteien können einen wirksamen Ausweg schaffen, indem sie sich mit der breiteren sozialen Opposition zusammenschließen und sich nicht auf enge juristische Kämpfe beschränken. Der organisierte Kampf der Arbeiterklasse kann eine entscheidende Rolle spielen, wenn der Tag kommt.
Können Sie die Repression und Gewalt in der Türkei beschreiben?
Die Regierung greift zu allen Mitteln, um den Widerstand in der Gesellschaft zu verhindern. Die Welle des Protests, die sich nach der Verhaftung von İmamoğlu entwickelte, war für die Regierung nicht zu kalkulieren. Die Regierung ist sich bewusst, dass es ihr nicht gelingen wird, diese Menschenmengen einzuschüchtern, die lediglich ihr Versammlungsrecht ausüben, und versucht daher, durch Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Verhaftungen Angst zu verbreiten. Dieses islamistisch-faschistische Regime kann nur durch einen Kampf besiegt werden, der von einer starken Straßenopposition angeführt wird.
Ezgi Deniz ist Exekutivmitglied der sozialistischen Sol-Parti (Linke Partei) aus der Türkei und lebt in Deutschland
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