Es wird einsam um Kiew
Von Reinhard Lauterbach
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat dem Westen eine »matte Reaktion« auf den Raketenangriff gegen seine Geburtsstadt Kriwij Rig am Freitag vorgeworfen. Insbesondere kritisierte er die Haltung der USA: »So ein starkes Land« habe zu dem Vorfall nichts anderes zu sagen gewusst als eine Aufforderung, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Das ukrainische Nachrichtenportal strana.news wies darauf hin, dass anders als in früheren derartigen Situationen auch andere Länder nur über ihre Botschafter in Kiew reagiert hätten. Dies galt offenbar auch für die noch amtierende Bundesregierung. Von der geschäftsführenden Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist keine öffentliche Äußerung bekanntgeworden.
Bei dem Angriff am Freitag waren nach aktuellen Angaben 19 Menschen getötet und über 70 verletzt worden, darunter auch zehn Kinder. Das jüngste war drei Jahre alt und wurde von dem Angriff offenbar in Begleitung seiner Großmutter auf dem Rückweg von einem Spielplatz getroffen. Unklar ist weiterhin, was das Ziel des Beschusses mit einer ballistischen »Iskander«-Rakete mit Streumunitionssprengkopf war. Während die Ukraine von »wahllosem Beschuss der Zivilbevölkerung« und von einem Kriegsverbrechen sprach, erklärte das russische Verteidigungsministerium, der Schlag habe einem Restaurant gegolten, in dem eine Besprechung zwischen ukrainischen Offizieren und westlichen Militärausbildern stattgefunden habe. Der ukrainische Generalstab widersprach dieser Darstellung; in kurz nach dem Einschlag aufgenommenen Videos von Anwohnern war gleichwohl die Rede davon, dass die Gasstätte »Magellan« getroffen worden sei.
Beide Versionen – das gesellige Beisammensein der Offiziere und die zivilen Opfer – müssen sich nicht zwangsläufig ausschließen. Folgt man der ukrainischen Darstellung, ergibt sich daraus die weitergehende Vermutung, dass sich ukrainische Militärs für solche Treffen offenbar mit einiger Regelmäßigkeit Orte aussuchen, an denen zivile Opfer mindestens nicht ausgeschlossen sind. Gemeinsam betrinken könnten sich die Militärs schließlich auch in irgendeinem Offizierskasino. Dass die zivilen Opfer billigend in Kauf genommen wurden, würde auch die Reaktion Selenskijs erklären, der offenkundig auf entschiedenere Worte der Verurteilung bis hin zu möglichen weiteren Sanktionen hoffte.
Vorfälle wie der genannte zeugen im übrigen auch von einem weitgehenden Misstrauen der ukrainischen Führung in die politische Verlässlichkeit der eigenen Bevölkerung. Es gibt immer wieder russische Angriffe auf gesellige Treffen ukrainischer und westlicher Militärs in öffentlichen Gaststätten oder auf Appelle von Soldaten zu Ordensverleihungen, die sich nicht anders erklären lassen als durch kurzfristig eingehende Hinweise örtlicher Sympathisanten Russlands. Geheimdienstchef Kirilo Budanow hat schon vor einiger Zeit erklärt, es gebe Ukrainer, die nicht »den Sieg schmieden« – sie seien es nicht wert, Bürger des Landes zu sein. Zuletzt beanspruchte er für die staatliche Informationspolitik das Recht zu lügen: In einem Interview vom Freitag sagte er, nicht alle Ukrainer seien von ihrem Bewusstsein her so weit, dass man ihnen die Wahrheit über den Krieg zumuten könne – ehrliche Darstellungen müssten daher noch warten.
Ohne greifbares Ergebnis endete offenbar eine Besprechung der Generalstabschefs der französischen und der britischen Armee mit ihren ukrainischen Kollegen am Freitag. Der französische Stabschef Thierry Burkart postete nach dem Treffen, man habe weiter »an den Vorbereitungen« für eine »Rückversicherungstruppe« gearbeitet, suche aber noch weitere Partner für diese. Das bedeutet im Klartext, dass Großbritannien und Frankreich nicht bereit und/oder in der Lage zu sein scheinen, das Risiko einer solchen direkten Stationierung ihrer Soldaten in der Ukraine zu übernehmen. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass die Bild am Wochenende ein langes Interview mit dem pensionierten Bundeswehr-General Erich Vad ins Netz stellte. Vad war früher Militärberater von Kanzlerin Angela Merkel und ist im Verlaufe des Krieges immer wieder mit »defätistischen« Aussagen hervorgetreten. Die Bild-Redaktion stellte das Gespräch unter die Schlagzeile »Für die Ukrainer ist der Krieg verloren«.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. April 2025 um 09:37 Uhr)Die Kluft zwischen öffentlicher Kriegsrhetorik, innenpolitischer Realität in der Ukraine und dem tatsächlichen Willen des Westens zum militärischen Engagement wächst weiter. Wer den Krieg nur noch als medialen Kampf um Narrative führt, verliert aus dem Blick. Die jüngsten Ereignisse rund um den russischen Raketenangriff auf Kriwij Rig werfen erneut ein grelles Licht auf die politische und militärische Lage in der Ukraine – und auf die Rolle von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Seine Empörung über die »matte Reaktion« des Westens mag aus seiner Sicht nachvollziehbar erscheinen, doch sie verkennt seine eigene Mitverantwortung an der Dauer und Eskalation dieses Konflikts. Medienwirksame Appelle ersetzen keine selbstkritische Analyse der eigenen Kriegsstrategie. Besonders besorgniserregend ist die Haltung des ukrainischen Geheimdienstchefs Kyrylo Budanow. Seine Aussagen offenbaren ein autoritäres Verständnis von Staat und Bürger. Man müsse das eigene Volk bewusst belügen, weil »nicht alle Ukrainer bereit für die Wahrheit« seien. Wer so spricht, offenbart ein tiefes Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung und eine Haltung, die mit den Grundwerten eines demokratischen Rechtsstaats kaum vereinbar ist. Dass ein Land mit einer solchen politischen Kultur ernsthaft als Beitrittskandidat zur Europäischen Union diskutiert wird, wirft unangenehme Fragen auf. Auch die internationale Reaktion – oder vielmehr das Ausbleiben einer solchen – spricht Bände. Die USA, Frankreich und Großbritannien beschränken sich auf mediale diplomatische Floskeln. Faktisch zeigen die zögerlichen Aussagen britischer und französischer Militärs, dass niemand bereit ist, konkrete Risiken für die Ukraine einzugehen. Die Aussage von General Erich Vad in der Bild-Zeitung, dass »der Krieg für die Ukraine verloren« sei, mag hart klingen – sie spiegelt jedoch eine nüchterne Einschätzung wider, die zumindest einen realistischen Blick auf die Kräfteverhältnisse wagt.
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