Die Krise des Internationalen Strafrechts
Von Malika Salha
Die Vereinten Nationen haben ein unabhängiges Gericht geschaffen, den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). So soll verhindert werden, dass Verstöße gegen das Völkerstrafrecht aus rein politischen Gründen geahndet bzw. nicht geahndet werden. Wie gut aber funktioniert diese Überlegung, insbesondere dann, wenn rechtliche Auslegungen letztlich machtpolitischen Interessen angepasst werden? Muss Deutschland sich nicht an das internationale Strafrecht halten? Die Rechtslage ist in diesem Kontext eindeutig: Befindet sich eine Person, die zum Zwecke der Festnahme gesucht wird, in einem Mitgliedstaat, so ist der IStGH nach Artikel 89 des Römischen Statuts dazu befugt, den betreffenden Staat um die Festnahme und Überstellung der Person zu ersuchen. Die diesbezüglichen Regelungen sind in Deutschland im Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem IStGH festgehalten. Gemäß Paragraph 9 dieses Gesetzes werden dann die erforderlichen Maßnahmen zur Feststellung des Aufenthaltes und zur Festnahme des Verfolgten ergriffen. Die Zuständigkeit für die Fahndungsmaßnahmen liegt in diesem Fall bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin. Auch Deutschland wäre demnach dazu verpflichtet, den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu festzunehmen, sollte er deutschen Boden betreten. Was genau prüft die Bundesregierung hier? Und könnte eine politische Überprüfung und Legitimierung einer Nichtstrafverfolgung rechtlich geltend gemacht werden?
Komplementarität
Auch wenn der IStGH für ein Verbrechen zuständig ist, kann er nur tätig werden, wenn der Fall »zulässig« ist. Es handelt sich dabei unter anderem um die Komplementarität, also einen Teil der Zulässigkeit, die die Bundesregierung im Falle der Strafverfolgung Netanjahus wegen der verübten Verbrechen im Gazakrieg »noch einmal überprüfen« wolle.¹ Die Komplementarität ist ein Prinzip des Internationalen Strafrechts, bei dem nationale Ermittlungen und Strafverfolgungen Vorrang vor internationalen haben. Ein Fall gilt als unzulässig, wenn er bereits von einem zuständigen Staat bearbeitet wird – es sei denn, dieser ist nicht willens oder nicht in der Lage, eine ernsthafte Strafverfolgung durchzuführen. Dasselbe gilt, wenn ein Staat nach einer Untersuchung entscheidet, keine Anklage zu erheben. Im Falle Netanjahus erscheint diese Argumentation wenig tragkräftig, da israelische Gerichte nicht den Anschein erwecken, ihn oder andere hochrangige Politiker aufgrund der mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Palästina, Libanon, Jemen oder Syrien strafrechtlich zu verfolgen. Dennoch tendieren europäische Staaten und die USA grundsätzlich dazu, einem westlich geprägten Staat wie Israel das »Willens und In der Lage« zur Strafverfolgung eher zu attestieren.
In einem weiteren Zweig der Komplementarität lässt sich betrachten, wie eine Rechtsauslegung politischen Interessen unterliegen kann: Eine doppelte Bestrafung wäre nach dem Komplementaritätsprinzip ebenfalls ausgeschlossen, sofern das vorherige Verfahren fair war und nicht dazu diente, den Beschuldigten vor Strafe zu schützen. Aber auch die Idee eines »fairen Verfahrens« orientiert sich am westlichen Ideal eines Strafverfahrens. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) beispielsweise wurde von westlichen politischen Akteuren nicht nur als Mittel der Rechtsprechung, sondern auch als Instrument militärisch geprägter Außenpolitik genutzt. Für letztere wurden Sanktionen, Drohnenangriffe und diplomatische Einflussnahme ebenso eingesetzt wie Strafverfolgungen vor dem Tribunal. Einer der Gründer des ICTY, M. Cherif Bassiouni, räumte 2000 ein, er hätte sich als Chefankläger »gezwungen gefühlt, sich den USA anzupassen«. Die US-Regierung machte zudem keinen Hehl daraus, dass ihre Unterstützung für internationale Strafgerichte von deren Kontrollierbarkeit abhängt. So erklärte der frühere US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz 2005, dass die USA den IStGH nicht unterstützten, weil ihnen die »richtige politische Aufsicht« über ihn fehle.²
Der IStGH ist seit dem Haftbefehl gegen Netanjahu harten Angriffen aus den USA ausgesetzt. Es ist davon auszugehen, dass sich unter der Präsidentschaft von Trump eine Zuspitzung der Situation ergibt, die beispielsweise eine erneute Sanktionierung einzelner Mitarbeiter des Gerichtshofs zur Folge haben könnte. Eine Politisierung des Rechts kann sich also einerseits in der Auslegung von Rechtsbegriffen, andererseits in der Institutionalisierung der Gerichtshöfe und direkter Einflussnahme auf sie zeigen.
»Freiwillige Schutzschilde«
Politische Standpunkte beeinflussen die Auslegung von Rechtsbegriffen. Ein Beispiel für eine solche Auslegung ist das Konzept der »freiwilligen menschlichen Schutzschilde«, das insbesondere in Kriegen mit Israel aufgrund asymmetrischer Kriegführungen – also Konflikten, in denen reguläre Streitkräfte auf nichtstaatliche Akteure treffen – von Relevanz ist.
»Menschliche Schutzschilde« sind Zivilpersonen oder andere nach dem humanitären Völkerrecht geschützte Personen, die sich an militärischen Zielen aufhalten, um diese vor Angriffen zu schützen. Das Verbot, solche Schutzschilde vorsätzlich einzusetzen, ist eine Regel des humanitären Völkerrechts, die in den Genfer Konventionen und dem Zusatzprotokoll I verankert ist. Sie gilt sowohl in internationalen als auch in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten. Das humanitäre Völkerrecht schützt Zivilisten als Personen, die nicht zu Streitkräften gehören. Dieser Schutz entfällt jedoch, wenn Zivilisten aktiv an Feindseligkeiten teilnehmen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob »freiwillige menschliche Schutzschilde«, also Zivilisten, die sich aus eigenem Willen an solchen Schutzmaßnahmen beteiligen, weiterhin als Zivilisten im Sinne des humanitären Völkerrechts betrachtet werden können.
Die israelische Armee begründet ihre militärische Vorgehensweise damit, dass sich Hisbollah-, Huthi- oder Hamas-Einheiten bewusst in zivilen Gebäuden verschanzen und gezielt die Bevölkerungen als menschliche Schutzschilde missbrauchen. Der Oberste Gerichthof in Israel beispielsweise subsumiert »freiwillige menschliche Schutzschilde« wie folgt: »Sie sind Opfer des Terrorismus. Wenn sie dies jedoch freiwillig tun, weil sie die terroristische Organisation unterstützen, sollten sie als Personen angesehen werden, die direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen«³, und klassifiziert somit Menschen, die ein militärisch legitimes Ziel nicht verlassen, als potentiell »freiwillige menschliche Schutzschilde«. Der ehemalige US-Generalmajor Charles J. Dunlap vertritt eine ähnliche Ansicht und argumentiert, dass Personen, die sich absichtlich an einem militärisch legitimen Ziel aufhalten, um es vor einem Angriff zu schützen, ihren Schutz als Zivilisten verlieren. Indem sie sich aktiv in die Verteidigung der Struktur einbinden, würden sie rechtlich nicht mehr als unbeteiligte Zivilisten gelten, sondern als Teil des militärischen Abwehrsystems.⁴
Was passiert aber, wenn sich das eigene Haus oder der Arbeitsplatz an solchen Zielen befinden? Ist die Absicht wirklich auf das Aufhalten an einem Ort zu beziehen oder auf die direkte Unterstützung einer Gruppierung? Die Auslegung des Obersten Gerichtshofs in Israel impliziert, dass Bewohner eines Hauses durch ihre bloße Anwesenheit in ihrem eigenen Haus ihren Schutzstatus verlieren können, wenn sie sich in der Nähe eines »legitimen« Angriffsziels aufhalten. Dabei kann es sich entweder um ein Waffenarsenal oder ein Mitglied einer »terroristischen« Organisation handeln. Dies widerspräche jedoch nicht nur dem Grundgedanken des humanitären Völkerrechts, das den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten vorsieht, sondern ignoriert zudem die Lebensrealität der Menschen in betroffenen Gebieten. Eine Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Schutzschilden ist in vielen Fällen asymmetrischer Kriegführung kaum möglich.
Das internationale Strafrecht ist auf diese Situationen nicht ausreichend vorbereitet, da es ursprünglich für klassische zwischenstaatliche Kriege entwickelt wurde. Asymmetrische Konflikte sprengen diese staatlichen Kategorien, da nichtstaatliche Gruppen oft keinen rechtlich anerkannten Status haben. Staaten neigen dazu, diese Gegner pauschal als »Terroristen« zu klassifizieren, um militärische Gegenmaßnahmen politisch als Selbstverteidigung zu legitimieren. Die rechtliche Diskrepanz ist weitgehend auf die westliche Fixierung auf den Nationalstaat als primäre Quelle politischer Legitimität zurückzuführen. Besonders problematisch wird dies in Fällen asymmetrischer Kriegführung, in denen es schwierig sein könnte, einen eindeutigen Fall von Selbstverteidigung zu bestimmen, ohne das Konzept vom Kampf gegen den Terrorismus heranzuziehen. Als Aggressoren im asymmetrischen Krieg gelten politisch grundsätzlich die »Terroristen«, nicht aber die Staaten. Diese politische Dimension in der Bestimmung eines Falles von Selbstverteidigung schlägt sich in der Rechtsauslegung nieder.
Militärisch legitim?
Die Israel Defence Forces (IDF) nutzen zur Kriegführung und Tötung von potenziellen Kombattanten künstliche Intelligenz (KI), die mutmaßlich Familienhäuser und zivile Infrastruktur gezielt angreift. Im Libanon wird von den Menschen beobachtet, dass Kombattanten, aber auch Menschen, die außerhalb des militärischen Arms der Gruppierung eine Nähe zur Hisbollah aufweisen, immer gerade dann angegriffen wurden, wenn sie sich in der Nähe von oder in Familienhäusern, in Krankenhäusern oder an Wasser- und Stromleitungen befanden. So berichtet ein Augenzeuge, der bei der Wasserpumpe in Tyros arbeitete, dass sein Freund, der als Ingenieur für die Hisbollah arbeitete, bombardiert wurde, sobald er sich der Wasserpumpe in Tyros näherte. Letztlich haben die IDF für eine wochenlange Trinkwasserknappheit für mehrere hunderttausend Menschen gesorgt, indem sie in zahlreichen Städten und Dörfern im Süden des Libanons die Wasserleitungen zerstörten. Ähnliches geschah mit der Stromversorgung und dem Gesundheitswesen. Israel nutzt zur Rechtfertigung jener Angriffe auf zivile Ziele die Argumentation des militärisch legitimen Ziels aufgrund der Nähe der Hisbollah zu zivilen Einrichtungen.
Bis heute führt Israel weiterhin militärische Operationen im Libanon durch, doch eine rechtliche Aufarbeitung dieser Einsätze bleibt bislang aus, obwohl sie von NGOs regelmäßig unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten kritisiert werden. Da der Libanon kein Vertragsstaat des IStGH ist, gibt es keine rechtliche Grundlage für eine internationale Strafverfolgung. Eine solche wird historisch betrachtet auch unwahrscheinlich bleiben, solange keine breite – insbesondere westliche – Öffentlichkeit politischen Druck erzeugt. Auch wenn Israels rechtliche Argumentationen zunächst haltbar erscheinen, prägt vor allem die politische Stärke internationaler Akteure maßgeblich die Bereitschaft internationaler Gerichte zur Strafverfolgung.
Die Kategorisierung von Personen als »freiwillige menschliche Schutzschilde« ist aufgrund einer bisher fehlenden Rechtsanwendung nicht nur eine juristische Grauzone, sondern folglich auch ein machtpolitisches Instrument asymmetrischer Kriegführung. Sie erlaubt es Staaten, zivile Tote zu rechtfertigen und völkerrechtliche Schutzmechanismen zu umgehen, indem sie die Verantwortung für Kriegshandlungen auf nichtstaatliche Akteure und die betroffene Zivilbevölkerung verlagern.
Um besser zu verstehen, wie die Lebensrealität von Menschen aussieht, die politisch und im Zweifel auch von einem Gericht als »freiwillige menschliche Schutzschilde« klassifiziert werden könnten, ist ein Blick auf deren Situation und die geschichtlichen und sozialen Hintergründe notwendig. Von israelischen Politikern hört man immer wieder, dass der gesamte Süden Libanons unter Kontrolle der Hisbollah und eine Trennung zwischen Zivilisten und Kombattanten oder Anhängern einer »terroristischen« Gruppierung nicht möglich sei. Wie also ist die Lebensrealität der Menschen, die im Südlibanon mit dem politischen Gegner Israels – der Hisbollah – leben?
Libanon und Hisbollah
Die meisten Menschen im Südlibanon sind Schiiten, die ursprünglich aus sieben Dörfern stammen, die historisch gesehen an der Grenze zwischen Libanon und Palästina lagen. Im Jahr 1948 wurden sie gewaltsam aus ihren Dörfern im Norden Palästinas vertrieben. Bis heute gibt es im Südlibanon eine Generation, die extreme Gewalt, Vertreibung und Massaker erlebt hat. Diese Menschen haben sich im Libanon eine zweite Heimat aufgebaut und bleiben sowohl mit Palästina als auch mit dem Libanon tief verbunden.
Auch nach 1948 ging der Kampf für die libanesischen Schiiten weiter. Die Palestine Liberation Organization (PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation) übernahm in den 1980er Jahren kurzzeitig den Südlibanon und nutzte ihn geostrategisch im Krieg gegen Israel. Die Schiiten unterstützten bereits vorher den palästinensischen Widerstand im Südlibanon. In der Folge mussten jedoch große Zerstörungen hingenommen werden.
Letztlich konnte der palästinensische Widerstand die dauerhafte politische Loyalität der schiitischen Gemeinschaft im Süden nicht gewinnen.⁵ Während des Bürgerkrieges im Libanon entstand 1982 die Hisbollah. Israel besetzte Teile des Südlibanon bis zum Jahr 2000, doch die Hisbollah, die sich als führende Widerstandskraft gegen diese Okkupation etablierte, führte einen anhaltenden Guerillakrieg, der schließlich zum israelischen Rückzug führte. Während der Besatzung waren die Libanesen massiven Repressionen ausgesetzt, darunter Inhaftierungen in Militärgefängnissen, politischer Verfolgung und Folter. Es gab zahlreiche zivile Opfer. Vor diesem historischen Hintergrund erscheint es nachvollziehbar, dass insbesondere im Südlibanon viele die Hisbollah als legitime Widerstandsbewegung betrachten. Nach dem israelischen Rückzug etablierte sich die Hisbollah als eine Partei, die sich für die Interessen der libanesischen Bürger einsetzt, wobei sie sich besonders auf die schiitische Bevölkerung im Süden konzentriert. Die Hisbollah finanziert Infrastruktur, Krankenhäuser und Sozialdienste und bietet einem großen Teil der südlibanesischen Bevölkerung Arbeit.
2006 kam es zu einem weiteren Krieg zwischen Israel und dem Libanon. Während dieses 34tägigen Konflikts bombardierte Israel weite Teile des Libanon, insbesondere den Süden und die südlichen Vororte Beiruts. Die Hisbollah wiederum führte Raketenangriffe auf israelisches Staatsgebiet durch. Zwar beanspruchten sowohl Israel als auch die Hisbollah den Sieg für sich, klar ist jedoch, dass Israel sowohl mit der Zerschlagung der Hisbollah als auch mit einer erneuten Besatzung des Südens nicht erfolgreich war. Dies wird von Libanesen zum Großteil als Sieg der Hisbollah über Israel betrachtet.
Seit 2019 befindet sich der Libanon in einer schweren wirtschaftlichen Krise. 2020 entschied sich die libanesische Regierung dafür, Staatsschulden in Höhe von 32 Milliarden US-Dollar nicht zu begleichen. Dies führte zum Zusammenbruch des libanesischen Bankensektors. Die Hisbollah hatte bis dahin bereits ein eigenes Bankensystem etabliert. Außerdem koordiniert die Hisbollah die Einfuhr von Medikamenten und finanziert und betreibt Stromnetze. Sie bietet weiterhin Arbeitsplätze, verteilt Gelder für den Wiederaufbau und finanziert beispielsweise Beerdigungen. Ein Leben, ohne mit der Hisbollah in Berührung zu kommen, ist also im Süden des Libanon insbesondere nach der Wirtschaftskrise schwer möglich.
Im Krieg Ende 2023 und 2024 wurde die zivile Infrastruktur des Südlibanon erneut zerstört. Israel griff Moscheen, Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser, Wasserleitungen und Stromnetze an. Für diese Angriffe gab es unterschiedliche Begründungen, aber in erster Linie wurde behauptet, dass die Hisbollah strategisch in zivilen Gebieten operiere und dass die Zivilbevölkerung selbst eine »terroristische« Organisation unterstütze.
In asymmetrischen Kriegen wie im Libanon ist die Bevölkerung also aufgrund der Anwesenheit der Hisbollah in zivilen Räumen oft gezwungen, in unmittelbarer Nähe bewaffneter Akteure zu leben. Die militärische Durchdringung ziviler Räume – sei es durch Widerstandsgruppen, die sich aus der Bevölkerung entwickelten, oder durch Besatzungsmächte, die gezielt Repressionen einsetzen – führt dazu, dass die Grenze zwischen Kombattanten und Zivilisten verwischt wird. Wenn Staaten diese Menschen als »freiwillige Schutzschilde« deklarieren, verschiebt sich die Schuldfrage: Zivilisten werden für ihre eigene Gefährdung verantwortlich gemacht, während der im Moment eines Angriffs handelnde Aggressor von seiner Pflicht entbunden wird, zivile Opfer zu vermeiden.
Von der Macht abhängig
Wenn der Oberste Gerichtshof in Israel von »freiwilligen menschlichen Schutzschilden« spricht, und diese Auslegung nicht einer herrschenden Position im internationalen Strafrecht folgt, dann ist das eine nationale Entscheidung, die innenpolitisch geprägt ist. Die Rechtsauslegung hängt mit der politischen Legitimierung der israelischen Kriegführung zusammen, mit der Gruppierungen wie die Hisbollah in ihrer Gesamtheit zerschlagen werden sollen. Unklar ist, ob mit dem Prinzip der Komplementarität in solchen Fällen die strukturellen Ungerechtigkeiten hinter diesen rechtlichen Begründungen hinterfragt werden können. Es bleibt also die Frage, ob nationale Gerichtsverfahren Vorrang haben, selbst wenn dadurch der Schutz von Zivilisten geschwächt wird, indem sie aufgrund des Aufenthalts in bestimmten Gebieten als »freiwilliges menschliches Schutzschild« eingestuft werden. Dadurch würden jedenfalls nationale Macht und politische Interessen im internationalen Recht verfestigt.
Es ist zum einen fraglich, ob der Staat Israel in diesem Krieg Interesse an einer Strafverfolgung hat, zum anderen, ob die Rechtsanwendung des Internationalen Strafrechts in diesem Fall die gleiche wäre wie vor dem IStGH. Die Behauptung, dass die Präsenz der Hisbollah in zivilen Gebieten Angriffe und damit die Zerstörung ziviler Infrastruktur legitimiere, verlagert in gefährlicher Weise die Verantwortung vom Aggressor weg. Das Argument, dass die Hisbollah insbesondere in dicht besiedelten Gebieten »menschliche Schutzschilde« einsetze, lässt die scheinbar grenzenlose Tötung von Zivilisten unter dem Vorwand zu, »Terroristen« zu eliminieren. Diese Art der Unterschiedslosigkeit in der asymmetrischen Kriegführung lässt sich auch in Jemen und Palästina beobachten.
Wenn man also auf die Aussage des Obersten Gerichtshofs in Israel zurückkommt, wird deutlich, warum diese rechtliche Argumentation und das Konstrukt »freiwilliger menschlicher Schutzschilde« so problematisch ist. Es lässt die Komplexität von Konfliktgebieten außer Acht, in denen Zivilisten aufgrund ihrer Herkunft und ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit mit einer Organisation wie der Hisbollah zusammenarbeiten oder wegen des Mangels an Alternativen für eine Umsiedlung keine andere Wahl sehen, als in unmittelbarer Nähe zu bewaffneten Akteuren zu leben. Viele der Menschen im Südlibanon wurden bereits einmal aus ihrer Heimat vertrieben und müssen damit rechnen, ihr Heimatland erneut zu verlieren, sobald sie es verlassen. Es gibt für sie keine andere Möglichkeit, als dort zu bleiben, wo sie sind.
Die Entwicklung des internationalen Strafrechts zeigt, wie stark rechtliche Institutionen von politischen Interessen durchdrungen sind. Ursprünglich sollte der IStGH gerade unabhängig von politischen Machtstrukturen agieren, doch in der Praxis zeigt sich das Gegenteil: Die Anwendung und Durchsetzung internationalen Rechts ist auch eine politische Frage. Besonders deutlich wird dies, wenn Staaten sich aus strategischen Gründen weigern, Haftbefehle zu vollstrecken, wie jüngst in Ungarn geschehen, oder wenn rechtliche Konstrukte – wie etwa das der »freiwilligen menschlichen Schutzschilde« – dazu benützt werden, bestimmte militärische Handlungen zu legitimieren. Dadurch werden nicht nur zivile Opfer entmenschlicht, sondern auch fundamentale Prinzipien des humanitären Völkerrechts untergraben. Eine selektive nationale Durchsetzung internationalen Rechts verstärkt bestehende Machtasymmetrien. So scheinen bestimmte Staaten oder politische Akteure de facto über dem Recht zu stehen.
Die Reaktionen auf die Strafverfolgung Netanjahus im Falle der Verbrechen im Gazastreifen – in der sich der IStGH erstmals gegen westpolitische Machtinteressen stellt – sowie das Bestehen der Bundesregierung auf dem Prinzip der Komplementarität machen die Verwirrung deutlich, wenn ein Staat mit Nähe zum politischen Westen sich an die internationale Strafverfolgung halten soll. Da die zu einem anderen Ergebnis kommende Auslegung keinen Unterschied bei der Pflicht zur Strafverfolgung bedeuten würde, kann nur von einer politisch im voraus legitimierten Rechtsauslegung ausgegangen werden, die bereitliegt, wenn Deutschland seiner Pflicht zur Strafverfolgung nicht nachkommt. Damit entsteht ein Machtverhältnis, in der das Recht nicht nur angewandt, sondern auch politisch ausgehandelt wird – ein Umstand, der die Glaubwürdigkeit internationaler Strafgerichtsbarkeit nachhaltig und global untergräbt und das internationale Strafrecht in eine akute Krise stürzt.
Anmerkungen:
1 https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/reaktionen-haftbefehl-istgh-netanyahu-was-macht-deutschland
2 Gordon N. Bardos: Trials and Tribulations: Politics and Justice at the ICTY. World Affairs, Band 176, Nr. 3, S. 16
3 High Court of Justice of Israel: The Public Committee v. The Government of Israel, Judgment, 14.12.2006, RN 36
4 Colonel Charles J. Dunlap Jr.: Law and Military Interventions: Preserving Humanitarian Values in 21st Century Conflicts, http://www.duke.edu/~pfeaver/dunlap.pdf
5 Vgl. Augustus Richard Norton: Amal and the Shi’a – Struggle for the Soul of Lebanon. University of Texas Press, S. 38
Malika Salha ist Juristin und Masterstudentin der Internationalen Strafjustiz mit dem Schwerpunkt Nah- und Mittelost, sie hat Rechtswissenschaften in Berlin und Potsdam studiert.
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Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (8. April 2025 um 03:18 Uhr)Das ganze so genannte Rechtssystem, egal ob national oder international, ist keines. Es handelt sich nur um eine der Fassaden, die u. a. zu Propagandazwecken aufgebaut werden, um die nackte Realität des Kapitalismus zu verhüllen. In diesem Bereich ist die Realität, dass es sich um ein eigentlich glasklares Unrechtsregime handelt. Und von solch einem Unrechtsregime erwarten sich dann ja nun wirklich nicht wenige eine funktionierende Rechtssprechung … diesbezüglich sieht mensch die Auswirkungen groß angelegter Hirnwäsche, die in Indoktrinationsinstitutionen wie Schulen und Hochschulen beginnt und über direkt oder indirekt kapitaleigene Massenmedien bis zu den gewaltsamen Repressionsapparaten wie Polizeien, Staatsanwaltschaften und Verurteilungsfabriken führt. Adornos »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« lässt sich auch auf die sgn. Justiz übertragen: »Es gibt keine Rechtsprechung im Unrecht.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (7. April 2025 um 14:40 Uhr)Dieser Ansatz, dass die Vereinten Nationen einen Internationalen Strafsgerichtshof geschaffen hatten, soll bedeuten, dass weltweit dann bald vereinigtes und international anerkanntes gültiges Völkerrecht realistisch wird? Klare Linie, nicht doppelzüngig? Trotz aller Weltpolizeipositionen und Millionen Toten, liebe Globalmacht USA? - Aber: Warum zweifeln wir an den christlichen = göttlichen Werten der geschmiedeten nächsten großen Koalition, wenn uns Bündnistreue unter Regierenden doch bisher eher weniger wichtig war und Staatsraison nicht mehr stimmt und nur verlogen wichtig ist? Wer maßt sich an, dass bei uns vielen dem Kriegsmorden der israelischen Regierungstruppen in Gaza bedingungslos zustimmen? Existieren dazu verlässliche Umfragen? Zum Beispiel aus Palästina und Israel? Und aus Deutschland und unter Israelis, die besser hier leben/leben wollen?
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