Auf der Suche nach einem neuen Lied
Von Frank Schäfer
Gleich nach der Ausbildung zum Buchhändler zieht Brinkmanns ehemaliger Kollege Rygulla nach Swinging London, um dem Wehrdienst zu entgehen, aber auch, um in dieser flamboyanten Stadt seine Homosexualität freier ausleben zu können. 1965 treffen sich die beiden wieder, Brinkmann soll für den Deutschlandfunk ein Feature über den Piccadilly Circus schreiben, und Rygulla wird für ihn zu einer Art Fremdenführer. Der wohnt mittendrin, in Bayswater, einem ziemlich heruntergekommenen Altbauquartier, das aber, zusammen mit Notting Hill gleich daneben, den ehemaligen Bohèmevierteln Bloomsbury oder Chelsea längst den Rang abgelaufen hat. Wegen der niedrigen Mietpreise haben sich hier Künstler, Literaten, Schwule, Hippies und linke Politaktivisten breitgemacht, die junge Undergroundszene eben, die mit neuen Kunstformen und Lebensstilen herumexperimentiert. Die London Free School ist um die Ecke, wo man im Jahr darauf den Notting Hill Carnival initiiert, der die verschiedenen Kulturen des Stadtteils auf der Portobello Road zusammenbringt, um nicht zuletzt dem alltäglichen Rassismus etwas entgegenzusetzen. Das libertinäre Chaos und das viele Dope auf offener Straße bringen die Bobbys ziemlich in Wallung.
Bei Brinkmanns erstem Besuch ist es noch etwas ruhiger hier, jedenfalls erinnert er sich so ein Jahrzehnt später in den »Erkundungen«: »wenig Pop, und Underground, Hash, Trips, sondern klare, scharfe und sogar etwas verträumte Ansichten«. Er treibt sich in der National Gallery herum, im Britischen Museum, und Rygulla, der bei der legendären Buchhandlung W & G Foyle Ltd., kurz »Foyles«, in der Charing Cross Road arbeitet, fixt ihn an mit den little mags und chapbooks der Alternativliteratur aus England und vor allem den USA.
Affiziert vom großen Freiheitsversprechen der Gegenkultur, kommt er in den nächsten Jahren regelmäßig zurück. Einmal trampt er nach Dünkirchen, nimmt dann die Nachtfähre, um anschließend in den Zug von Dover nach London zu steigen. Ein anderes Mal lässt er sich von einem Bekannten chauffieren, seine Frau Maleen begleitet ihn. Das billige, etwas schäbige Rhine Hotel unweit von Rygullas Wohnung wird zu seiner bevorzugten Absteige, Ausgangspunkt seiner Exkursionen. Zunächst mal liefert er dem Deutschlandfunk wie verabredet eine Reportage über den Piccadilly Circus. Nicht seine inspirierteste Arbeit, eine kreisende, redundante und in ihrer Übergenauigkeit merkwürdig unanschauliche Beschreibungsetüde, die den Charme einer Bedienungsanleitung versprüht.
Seine Verse sind wieder mal sehr viel eingängiger und suggestiver. »In London, Flat 6«, ein Gedicht aus »Westwärts 1 & 2«: »Donovan zog das Holzbein an den / Buchhandlungen vorbei, auf der Suche / nach einem neuen Lied. / Es war gerade damals. / Eine Tomatensuppe dampfte an der Themse. / Die Manieristen hingen / schief.« Es ist natürlich Andy Warhols Suppensiebdruck, auf den er hier anspielt. Offensichtlich hat er sich auch die US-Pop-Art in der Tate Gallery angesehen.
Vor allem aber interessieren ihn die einschlägigen Buchhandlungen, die er regelmäßig nach hektographierten Zeitschriften, Broschüren und Büchern aus den Klein- und Independent-Verlagen durchforstet. Die Londoner Klubszene nimmt er ebenfalls in Augenschein. Im Tiles in der Oxford Street sieht er The Who, versichert er in einem Brief an Hartmut Schnell, und bekommt »panische Angst«, »als ich auf einem dicken Placken ausgekautes Kaugummi trat und in der hin und her schwankenden Menge den Fuß vom Boden nicht loskriegte«.
London ist jedoch viel mehr als das, was er hier sieht und hört, London ist eins der Zentren der Bewegung. Ein von heute aus kaum mehr begreifliches Heilsversprechen, dass sich die Kunst, Literatur und eben auch die Gesellschaft im Zeichen der Popkultur befreien lassen – von verstaubten Konventionen, von Konsum, Kapitalismus, Krieg und noch mehr. Brinkmann lässt sich davon mitreißen, wer denn nicht in jenen Jahren? Aber die fast schon zwangsläufige Enttäuschung folgt auch irgendwann, als die ganz großen Veränderungen ausbleiben.
Das beeinflusst sein London-Bild. Die touristisch überlaufene Stadt ist für ihn wie Berlin, München, Frankfurt oder eben Köln nur noch ein weiteres Signum für ein »trauriges, erschöpftes, kriechendes Abendland«. »Leben das sich in Essen-Gehen erschöpft / : in Musikgehänge, in trübem schlaffen Gewusel«, klagt er, »die sogenannte junge Generation in Begriffen und sinnlosen Aktionen verheizt! / warten alle auf einen Neuen Anfang, auf Erlösung! Wovon?!«
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