Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 12.04.2025, Seite 15 / Geschichte
Zweiter Weltkrieg

Der Weg nach Berlin

Mit der Schlacht um die Seelower Höhen vor 80 Jahren erkämpfte sich die Rote Armee den Zugang zur deutschen Hauptstadt
Von Martin Seckendorf
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Materialschlacht: Von der Wehrmacht zurückgelassene Haubitzen (Nähe Seelow, 20.4.1945)

Wir dokumentieren im Folgenden in memoriam Martin Seckendorf einen Artikel des am 14. Oktober 2020 verstorbenen marxistischen Historikers, der in der Ausgabe vom 11. April 2015 erschienen ist. (jW)

Die Winteroffensive aus dem großen Weichselbogen führte die sowjetischen Streitkräfte binnen 18 Tagen an die Oder bei Frankfurt. Bis Berlin waren es nur noch 70 Kilometer. Auf dem Westufer der Oder konnte die 1. Belorussische Front unter Georgi Konstantinowitsch Schukow Brückenköpfe errichten, die die operative Basis der Sowjetarmee für den Kampf um die Seelower Höhen bildeten. Die Schlacht wurde von beiden Seiten als Entscheidungskampf angesehen. Für die Rote Armee war die Einnahme dieses Höhenzuges die Öffnung des Zugangs nach Berlin auf kürzestem Wege. Die Naziführung erwartete Zeitgewinn, um den Untergang des Regimes hinauszuschieben, mit der Hoffnung, dass die Antihitlerkoalition auseinanderbrechen und der Krieg noch eine Wende nehmen werde. Am 6. April hatte Hitler den Truppen an der Oderfront als operative Aufgabe befohlen, die kommende Schlacht müsse »zum größten Abwehrerfolg dieses Krieges werden«. Die deutsche Führung erwartete den Hauptschlag der Roten Armee zwischen Hohensaaten und Frankfurt, vor allem beiderseits der von Berlin nach Küstrin führenden Reichsstraße 1 mit den Seelower Höhen im Zentrum.

Flankenbedrohung

Nach der Winteroffensive musste die Sowjetarmee für mehr als zwei Monate die Offensive gegen Berlin verschieben. Starke faschistische Kräfte in Pommern begannen eine in Richtung Küstrin führende Operation, um die zur Oder durchgebrochenen sowjetischen Verbände von ihren Hauptkräften abzuschneiden. Eine Niederlage so kurz vor der Einnahme Berlins hätte für die Rote Armee einen schweren Rückschlag bedeutet. Schukow drehte seine Angriffsverbände an der Oder nach Norden gegen die Gruppierung in Pommern ein. Ende März 1945 war das gesamte Territorium östlich der Oder in sowjetischer Hand.

Inzwischen hatte sich die Kriegslage in Europa verändert. Die angloamerikanischen Armeen, die nach der Ardennenoffensive der Wehrmacht lange am Westwall verharrten, begannen Anfang März eine Offensive gegen den Rhein und drangen schnell in das Innere Deutschlands vor. Der sowjetischen Führung war zudem nicht entgangen, dass sich faschistische Agenten um Gespräche mit den Westalliierten bemühten und Churchill seine Generäle aufforderte, so viel deutsches Gebiet, einschließlich Berlins, wie möglich zu besetzen, um »Faustpfänder« für die Nachkriegsregelung zu erhalten. Das einzige Mittel, die westlichen Verbündeten zur Einhaltung der besprochenen Maßnahmen zu veranlassen, war die schnelle Eroberung Berlins und das Erreichen der Elbe durch die Rote Armee.

Die Zeit drängte auch aus militärischen Gründen. Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) hatte angewiesen, die Oderfront auf Kosten der Westfront rigoros zu verstärken. 45 große Verbände, starke Luftwaffenkräfte und Hunderte Batterien von Artillerie und Fliegerabwehrgeschützen, die zur Panzerbekämpfung eingesetzt werden sollten, gingen ebenso wie der größte Teil der Neuproduktion von Waffen und Panzern an die Ostfront. Vor allem bauten die Faschisten das Gebiet an den Seelower Höhen aus. Die zwischen Hohensaaten und Frankfurt liegende 9. deutsche Armee wurde zum kampfkräftigsten Großverband an der Oder aufgebaut und deren Frontabschnitt unter Nutzung der für einen Verteidiger günstigen Topographie befestigt. Ein über 40 Kilometer tiefes, bis an die Tore von Berlin reichendes Stellungssystem entstand. Die Achillesferse der deutschen Befestigungen war das Fehlen operativer Reserven, die durchgebrochene sowjetische Panzerverbände hätten abfangen können. Alle personellen und materiellen Kräfte der Faschisten mussten von Anfang an in die Front gestellt werden. Es fehlten personeller Ersatz, Artilleriemunition und Flugzeugbenzin. In dieser Lage wäre die einzig vernünftige, »militärisch sachgerechte« Reaktion die sofortige Kapitulation gewesen, um das zu erwartende Massensterben von Soldaten und Zivilisten abzuwenden.

Der Sturm bricht los

Am 2. April erging an Schukow der Befehl, den Hauptschlag gegen die Seelower Höhen und anschließend gegen Berlin mit sechs Armeen, darunter zwei Panzerarmeen, aus dem inzwischen 315 Quadratkilometer großen Brückenkopf westlich Küstrins zu führen. Die Offensive sollte nach etwa 15 Kampftagen mit der Einnahme Berlins und dem Erreichen der Elbe auslaufen. Um in dem schwierigen Gelände der Seelower Höhen und des Oderbruchs erfolgreich zu sein, versammelte Schukow eine Dichte militärischer Kraft, wie sie bislang nicht erreicht worden war.

Am 16. April um 4 Uhr begann mit gewaltigen Artillerieschlägen gegen die deutschen Stellungen zwischen Wriezen und Frankfurt die große Schlacht. In der Meldung der 9. Armee für den 16. April heißt es, der Angriff sei eingeleitet worden mit einem zweieinhalbstündigen Trommelfeuer aus 4.100 Rohren, »durch rollende Kampf- und Schlachtfliegereinsätze mit etwa 2.000 Einflügen, durch den Einsatz von 450 Panzern«. 1.236.000 Granaten verschossen Schukows Artilleristen an diesem Tag. Den Rotarmisten schlug unerwartet heftiges Feuer entgegen. Nach wenigen Stunden kam der Angriff vor der Seelower Höhenstufe zum Erliegen. Die Faschisten hatten die Masse der Soldaten und Kampftechnik aus der vordersten Stellung in eine mehrere Kilometer dahinter liegende, besonders ausgebaute Linie zurückgenommen und dem sowjetischen Artilleriefeuer entzogen. Schukow schrieb, dass die gedeckten Stellungen, häufig im Hinterhang angelegt, von der sowjetischen Aufklärung nicht erfasst worden waren. Hinzu kam, dass die schwere Kampftechnik wegen der Überflutungen im Oderbruch auf die wenigen befestigten Wege und Bahndämme angewiesen war und von den Deutschen leicht bekämpft werden konnte.

Nach Umgruppierungen und der Einführung zweier Panzerarmeen ging der Angriff weiter. In schweren Kämpfen kamen die Rotarmisten langsam vorwärts. Am 18. April war die Höhenstufe bei Seelow erobert. Am 19. hatten die Sowjetsoldaten die Schlacht gewonnen. Die 9. deutsche Armee war in drei Teile zerschlagen. Der Kampf forderte entsetzlich große Opfer. Mehr als 33.000 sowjetische und 12.000 deutsche Soldaten starben.

Die Offensive zur Befreiung Berlins ging weiter. Am 21. April erreichte die Sowjetarmee in Marzahn die Stadtgrenze Berlins.

Propaganda und Terror

Ein wesentlicher Teil der Vorbereitungen der Nazimilitärs auf die »Entscheidungsschlacht« an der Oder war Pogromhetze gegen die Rote Armee. Soldaten und Zivilisten sollten in der aussichtslosen Lage aus Angst vor Gefangenschaft und sowjetischer Besetzung zum fanatischen Weiterkämpfen motiviert werden. Damit wollte man dem voraussehbaren Massensterben und den flächendeckenden Zerstörungen noch einen Sinn geben. Reichsminister Joseph Goebbels schrieb am 2. Februar 1945, »jedermann« müsse sich darüber im klaren sein, dass »wir den Krieg nicht verlieren dürfen, wenn wir nicht alles verloren geben wollen«.

Jene, die sich der katastrophalen Entwicklung entziehen oder gar widersetzen wollten, wurden als Verräter, Defätisten oder Feiglinge stigmatisiert. Der Terror gegen die eigenen Soldaten und die Bevölkerung erreichte bis dahin unbekannte Ausmaße. Sinnbild der Vernichtungsorgien waren die Standgerichte, die serienweise Todesurteile fällten und meist sofort vollstrecken ließen. Ihre »Rechtsprechung« wurde zunehmend radikaler. Hitler dekretierte am 22. April aus dem Bunker der Reichskanzlei: »Jeder, der Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt, ist ein Verräter! Er ist augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen!« Wie der Oberbefehlshaber der 9. Armee, Theodor Busse, diese Linie umsetzte, beschreibt Goebbels in seinem Tagebuch. Der General sei »deprimiert« darüber gewesen, dass es seinen Soldaten nicht gelungen war, sowjetische Brückenköpfe an der Oder zu liquidieren. Um die Kampfmoral zu heben, habe er Standgerichte eingesetzt. »Von diesen sind eine Reihe Offiziere und Mannschaften zum Tode verurteilt und gleich im Angesicht der Truppe füsiliert worden.«

Martin Seckendorf

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