Ideologischer Bedarf
Von Jürgen Lloyd
Brecht hat 1935 aus dem dänischen Exil eine Mahnung an antifaschistische Schriftsteller verfasst, die ihre Gültigkeit nicht verloren hat. In seinem Aufsatz über die »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit« urteilt er: »Leute, die nur kleine Fakten niederschreiben, sind nicht imstande, die Dinge dieser Welt handhabbar zu machen. Aber die Wahrheit hat nur diesen Zweck, keinen andern. Diese Leute sind der Forderung, die Wahrheit zu schreiben, nicht gewachsen.«
Kürzlich erschien im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta das Buch »Das Deutsche Demokratische Reich«. Sein Autor, Volker Weiß, laut Verlagswerbung »einer der besten Kenner der neurechten Szene«, kündigt im Vorwort an, im Buch würden die »Überschreibungen und Umdeutungen des Historischen, mit denen in der Gegenwart massiv Politik gemacht wird«, untersucht werden. Leider beschränkt er sich aber darauf, die ideologischen Mittel – die Umdeutungen von Geschichte – zu beschreiben und blendet den beabsichtigten Zweck aus: die politische Wirkung. So liefert Weiß dann viele »kleine Fakten« über rechte Ideologiefabrikationen auf dem Terrain der Geschichtsbilder. Und dies zwar nicht originell – es ist oftmals schon andernorts beschrieben –, aber nichtsdestotrotz kenntnis- und facettenreich.
Im Gegensatz zu marxistischen Historikern meint er mit der »Entdeckung«, dass Vokabular und Zeichen aus der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung von rechts aufgegriffen und in einen entsprechend anderen Bedeutungskontext gestellt werden, jedoch bereits eine erschöpfende Leistung vollbracht zu haben. Handhabbar im Sinne Brechts wird die historische und gesellschaftliche Wirklichkeit – zu der diese Dinge zählen – aber erst, wenn nach dem Sinn der Geschichtsumdeutungen gefragt wird und nach dem ideologischen Bedarf einer herrschenden Klasse, welche die Durchsetzung ihres Interesses unter konkreten Bedingungen gewährleisten muss. Danach sucht man in diesem Buch jedoch vergeblich – was den letzten Satz aus dem obigen Brecht-Zitat einschlägig werden lässt.
Der Inhalt des Buches verteilt sich auf fünf Kapitel nebst Nachwort und umfasst – ohne Endnoten und Literaturverzeichnis – gut 240 Seiten. Im ersten Kapitel erfährt der Leser von Analogien zwischen Reden von AfD-Politikern und der Erklärung des russischen Präsidenten Putin vom 24. Februar 2022: »Das Denken beider ist von denselben Motiven des Verfalls und der Auflösung geprägt und zeigt eine wahre Untergangs-Besessenheit.« Weiß erklärt diese Analogie, die er ebenso »auch in Teheran, Riad, Pjöngjang, Peking oder Budapest« gegeben sieht, mit dem Befund, die kulturpessimistische Klage sei motiviert durch die Furcht vor den »westlichen« Produkten des Individualismus. Denn – so Weiß – dieser Individualismus könne »Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen aufzeigen und die eigenen Machtstrukturen erschüttern«.
Damit hat der Autor den Bedeutungskontext seines Buches auf den Punkt gebracht: Hier das befreiende Potential des Individualismus – dort das Streben nach autoritärer Macht. Dass er sich hierbei – wie seine Auflistung der Negativbeispiele zeigt – auf den Boden der Regierungspolitik stellt, ist demnach kein Zufall. Unter Verweis auf die Deutungen des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, einem notorischen Apologeten deutscher Machtpolitik, ergänzt Weiß diese Frontenklärung mit der Behauptung, es sei weniger die NATO-Osterweiterung gewesen, die den Interessen der Russischen Föderation entgegensteht, als die Modernisierungsprojekte der EU, die mit ihren Plänen zum Umbau der Energiewirtschaft die ökonomische Basis des »russischen Regimes« in Frage stellten. Daraus erkläre sich dann der »Grünen-Hass« der Bewunderer dieses Regimes.
Ähnlich beschäftigen sich auch die folgenden zwei Kapitel mit der »russisch-deutsche Allianz am rechten Rand«. Treffend beschreibt Weiß die vorhandenen Differenzen innerhalb der radikalen Rechten mit Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Er erwähnt Positionen der Unterstützung für die inzwischen in die ukrainische Armee integrierten faschistischen Kampfverbände und der Sympathie für die als »Kampfentschlossenheit des ukrainischen Volkes« gedeutete Kriegspolitik. Ebenso lässt sich auch ein positiver Bezug auf die russische Seite beobachten, die sich der »westlichen Dekadenz« entgegenstemme. Und er zeigt Zwischenpositionen auf, die den Krieg als bedauernswerten Bruderzwist deuten, bei dem Ukrainer und Russen ihre Souveränität gegeneinander ausfechten, statt – wie es geboten sei – gegen den Hegemonieanspruch der USA und dies am besten im Einklang mit Deutschland.
Korrekt zeigt Weiß auf, dass dieser Strauß an Positionen seine historischen Vorläufer in den variantenreichen Positionen der faschistischen Richtungen der Weimarer Republik hat und diese auch von den heutigen Ideologen rezipiert und propagiert werden. Alles Wesentliche hierzu war bereits vor Jahrzehnten insbesondere bei Reinhard Opitz nachzulesen. Dass es keine neuen Erkenntnisse sind, macht das Geschriebene aber nicht falsch. Zu kritisieren ist jedoch der Verzicht von Weiß, nach der Funktion dieser Positionsvielfalt faschistischer Ideologien zu fragen. So bleibt ihm nur, sein Unverständnis auf den Nenner »verwirrende Frontverläufe« zu bringen.
Zuzustimmen ist dem Autor, wenn er die Bestrebungen kritisiert, den Nationalsozialismus als angeblich linke Bewegung darzustellen. Was einst zur demagogischen Empfehlung des Faschismus als Sozialismus brauchbar war, erhält später seine Wiederverwendung zur Diskreditierung des Sozialismus als Faschismus. Die Totalitarismus-»Theorie« lebt davon. Weiß hat sich die Mühe gemacht, nachzuprüfen, wie ein in diesem Kontext herangezogenes Zitat, in dem die NSDAP als »deutsche Linke« bezeichnet wird, falsch wiedergegeben und zudem fälschlich Joseph Goebbels zugeschrieben wird. Diese Quellenkritik ist lobenswert. Die Bedeutung des Zitats ist aber überschätzt, wenn erwartet wird, hierdurch die Legende vom »linken« Faschismus als historisch falsch nachgewiesen zu haben. Elon Musk und Alice Weidel brauchten nicht (vermeintlich) von Goebbels darüber informiert zu werden.
Im letzten Kapitel zeigt der Autor erneut seine Anpassungsfähigkeit: Hat er zuvor die Verwischung von links und rechts als Demagogie der Rechten gebrandmarkt, so übernimmt er nun die »Correctiv«-Behauptung, in den Reihen der AfD sei eine signifikant hohe Anzahl ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit und zitiert als Erklärung hierfür den »Forschungsverbund SED-Staat«: »In deren Diktion ist Putin bis heute ein Genosse und sie haben bis heute die autoritäre Gesinnung aus den kommunistischen Organisationen nicht abgelegt.« Das Buch belegt also zu Recht Platz eins der Sachbuchbestenliste von Deutschlandfunk Kultur, ZDF und Die Zeit.
Volker Weiß: Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört. Klett-Cotta, Stuttgart 2025, 288 Seiten, 25 Euro
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