Selenskijs Aufruf verhallt
Von Reinhard Lauterbach
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat nach dem russischen Raketenangriff auf das Zentrum der grenznahen Großstadt Sumi am Sonntag eine »internationale Reaktion« auf den Vorfall gefordert. Er sprach von einem neuen Beispiel von »russischem Terrorismus« gegen die Zivilbevölkerung. Die Zahl der Todesopfer ist inzwischen auf 34 gestiegen, die der Verletzten auf 117.
Dabei schälen sich zwei vollkommen voneinander getrennte Darstellungen zu dem Vorfall heraus. Die staatsnahe ukrainische und die westliche Öffentlichkeit sprechen von einem unerklärlichen Angriff auf friedliche Zivilisten, die sich zum Palmsonntagsgottesdienst in eine nahegelegene Kirche begeben hätten. Auf der anderen Seite veröffentlichte die regionale Militärverwaltung der westukrainischen Stadt Berditschiw im Internet einen Nachruf auf den Vizekommandeur der 82. Artilleriebrigade, der bei dem Angriff tödliche Verletzungen erlitten habe. Schon am Sonntag hatten mehrere selenskijkritische ukrainische Abgeordnete die These vertreten, Ziel des Angriffs sei ein Militärappell aus Anlass von Ordensverleihungen gewesen. Lokale Politiker wie der Bürgermeister von Sumi hätten für diese Veranstaltung gezielt auch unter Jugendlichen geworben. Wahrscheinlich habe irgend jemand von den Eingeladenen den Text an die russische Seite weitergeleitet, oder die entsprechende Nachricht sei gehackt worden, vermutete der Abgeordnete Igor Mossijtschuk, der nach dem »Maidan« einer der radikalsten Wortführer der Nationalisten war. Unbestritten ist allerdings, dass eine zweite russische Rakete kurz nach dem ersten Einschlag auf dem Vorplatz der Universität einschlug und unter anderem einen Trolleybus und erste Helfer traf.
Selenskijs Aufruf, den Vorfall international zum Thema zu machen, verhallte zumindest in den USA. US-Präsident Donald Trump nannte den Angriff zwar »schrecklich« und »einen Fehler«, bezeichnete aber den ganzen Ukraine-Konflikt als »Joe Bidens Krieg«, an dessen Auslösung er, Trump, keinen Anteil gehabt habe. Es fällt dabei auf, dass mit diesen Äußerungen auch das allgemeine westliche Narrativ vom »unprovozierten russischen Angriffskrieg« zumindest nicht mehr wiederholt wird.
Parallel dazu hat Wolodimir Selenskij die Erzählung vom ukrainischen Kampf bis zum Sieg zumindest relativiert. In einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS sagte er, der Krieg müsse am Verhandlungstisch beendet werden. Weder habe Russland die Kraft, die ganze Ukraine zu besetzen – was allerdings Wladimir Putin nie als russisches Kriegsziel benannt hat –, noch die Ukraine die Fähigkeit, kurzfristig alle verlorenen Territorien zurückzuerobern. An dem Anspruch auf sie halte Kiew aber fest, so Selenskij; die »Befreiung« werde irgendwann in der Zukunft stattfinden. In einer Einblendung nannte der Sender die Zahl von 100.000 seit Kriegsbeginn gefallenen ukrainischen Soldaten, mehr als doppelt soviel wie die offizielle ukrainische Angabe von etwa 46.000 Gefallenen.
In Deutschland hat der designierte Kanzler Friedrich Merz das Thema einer Lieferung des deutschen Marschflugkörpers »Taurus« an die Ukraine wiederbelebt. Im ARD-Interview mit der Moderatorin Caren Miosga sagte er am Sonntag, er sei bereit, diese Raketen zu liefern, aber nur in Absprache mit den wichtigsten westlichen Verbündeten. Der Haken an dieser Einschränkung ist, dass Großbritannien und Frankreich ihre eigenen Arsenale an weitgehend baugleichen Raketen der Typen »Storm Shadow« bzw. »Scalp« schon erschöpft haben und die Trump-Administration ebenfalls eher nicht geneigt sein dürfte, der BRD die in diesem Fall angeforderte militärische Rückendeckung zu gewähren. Die Aussage von Merz scheint insofern eher gesichtswahrenden Charakter zu tragen.
Von der Front werden weitere russische Geländegewinne an verschiedenen Abschnitten gemeldet. Die Angaben sind im einzelnen nicht zu überprüfen, dürften aber angesichts der Tatsache, dass sie mit einigen Tagen Verzögerung auch auf ukrainischer Seite zumindest auf Karten dokumentiert werden, zumindest in der Tendenz den Tatsachen entsprechen.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (15. April 2025 um 14:02 Uhr)Erkennbar wird der russische Raketenschlag im Westen benutzt, um jegliche Lösungen des Ukraine-Konflikts auf politischem Wege zu torpedieren. Die Losung heißt in Großbritannien, Frankreich und Deutschland: »Weiterkämpfen bis zum letzten Ukrainer«. Dass dabei mehr draufgehen kann als nur die Ukraine, spielt keine Rolle. Wenn Deutschland in einen Krieg mit einer Atommacht geführt wird, muss eines klar sein: Das würde zwingend ein Atomkrieg. Nachdem Deutschland wie Karthago nicht mehr auffindbar wäre. Die da oben haben keine Meise. Die spielen mit voller Absicht mit dem Leben von 83 Millionen Bundesbürgern. Das Mindeste, was wir jetzt tun müssen, ist, die Ostermärsche zu einem Aufschrei gegen diesen Wahnsinn zu machen. Indem wir jeden dazu aufrufen, dorthin zu gehen, den wir nur ansprechen können. Denn wenn wir nicht schreien, endet dieser Wahnsinn nie!
- Antworten
-
Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (15. April 2025 um 11:10 Uhr)Die Risse im westlichen Ukraine-Narrativ werden sichtbar. Der Artikel bringt eine unbequeme Wahrheit ans Licht: Die westliche Öffentlichkeit beginnt, sich von der offiziellen ukrainischen Erzählung zu distanzieren – und das aus gutem Grund. Der Raketenangriff auf Sumi wird von Kiew als gezielter Terror gegen Zivilisten dargestellt. Doch bereits ukrainische Quellen selbst berichten von einem getöteten Vizekommandeur der Artilleriebrigade und einem möglichen Militärappell mit politischer Inszenierung. Wenn sogar selenskijkritische Abgeordnete öffentlich vermuten, dass die Einladung zur Veranstaltung an die russische Seite durchgestochen wurde, verliert das Bild eines »völlig unprovozierten Angriffs« an Glaubwürdigkeit. Auch Selenskijs jüngste Aussagen, wonach der Krieg letztlich nur am Verhandlungstisch enden könne, wirken wie ein spätes Eingeständnis der militärischen Sackgasse. Gleichzeitig werden die eigenen Opferzahlen weiterhin schöngerechnet – während westliche Medien, wie CBS, deutlich höhere Schätzungen veröffentlichen. Wer derart mit Zahlen operiert, verliert Vertrauen. Dass ausgerechnet Donald Trump den Konflikt inzwischen als »Joe Bidens Krieg« bezeichnet und dabei das Mantra vom »unprovozierten Angriffskrieg« nicht einmal mehr erwähnt, ist ein Warnsignal. Es zeigt, wie brüchig das bisherige westliche Einheitsnarrativ geworden ist. Und Friedrich Merz’ Ankündigung, »Taurus«-Raketen liefern zu wollen – unter Vorbehalt der Zustimmung alliierter Partner, die längst keine Kapazitäten mehr haben –, erscheint vor diesem Hintergrund nicht als strategischer Vorstoß, sondern als symbolpolitische Luftnummer. Man kann nicht dauerhaft auf die Wirkung bloßer Narrative setzen. Die Wahrheit lässt sich nicht auf Dauer unterdrücken. Oder, wie Abraham Lincoln es treffend formulierte: »Man kann alle Menschen eine Zeit lang täuschen und einige Menschen allezeit, aber man kann nicht alle Menschen allezeit täuschen.«
- Antworten
-
Leserbrief von Reinhard Hopp aus b (15. April 2025 um 13:14 Uhr)Der Terminus »Narrativ« enthält die Bezeichnung »Narr«. Und das nicht ohne Grund, denn es gibt immer wieder Populisten, die die Öffentlichkeit gezielt zum Narren halten, und leider auch immer wieder zahlreiche Menschen, die sich nur allzu gerne zum Narren halten lassen. Und einfache Schwarz-Weiß-Erzählungen von »Gut« gegen »Böse« sind uns allen ja schon aus zahlreichen Märchen seit unseren Kindertagen bestens vertraut. Dass selbst im Fall der Ukraine sogar noch die abstrusesten Märchen verfangen, erstaunt jedoch umso mehr; konnte doch die ganze Welt die grausamen faschistischen Pogrome von Odessa im Mai 2014 live mitverfolgen.
- Antworten
Ähnliche:
- Alexey Pavlishak/REUTERS15.04.2025
Signal der Eskalation
- Michael Kappeler/dpa14.04.2025
Gegen Moskau und Beijing
- IMAGO/Müller-Stauffenberg14.04.2025
Ideologischer Bedarf
Mehr aus: Ausland
-
Trump will Pipeline von Kiew
vom 15.04.2025 -
Trotz weißer Weste deportiert
vom 15.04.2025 -
Miliz zementiert Spaltung
vom 15.04.2025 -
Vertreibung als humanitärer Akt
vom 15.04.2025