Vor der zweiten Nakba
Von Ido Arad
Ungestört von internationaler und einheimischer Aufmerksamkeit verschärft die israelische Regierung in diesen Tagen ihr verbrecherisches Vorgehen in Gaza. Die Stadt Rafah und ihre Umgebung, einst Zuhause für zweihunderttausend Menschen auf fünfundsiebzig Quadratkilometern, sollen in eine verwüstete militärische Pufferzone umgewandelt werden. Die israelische Armee ist fleißig dabei, im Sinne der ethnischen Säuberungspläne von Benjamin Netanjahu und Donald Trump Fakten vor Ort zu schaffen. Über zwei Millionen Einwohner eines der am dichtesten besiedelten Gebiete weltweit sollen sich innerhalb von 75 Prozent des Territoriums des Gazastreifens zusammendrängen. Erst einmal. Denn die israelische Regierung versucht gar nicht, ihre wirklichen Pläne zu verheimlichen. Am Vorabend der Pessach-Feiertage als des wichtigsten Symbols der Freiheit in der jüdischen Tradition, verkündete Verteidigungsminister Israel Katz, dass der Krieg sich bald in andere Teile von Gaza ausweiten werde. Und er fügte großzügig hinzu, dass es für jeden, der es wünscht, eine Möglichkeit geben werde, »freiwillig aus Gaza in andere Länder auszuwandern«.
Erwartungsgemäß wird das internationale Interesse an Israels Aktionen im Gazastreifen und dem Westjordanland mit der Zeit absterben. Trumps Einzug ins Weißen Haus entpuppte sich als günstiges Zeitfenster für die israelische Regierung, den gewünschten qualitativen Sprung durchzuführen: Vorher war es nur ihr unausgesprochener Traum, eine zweite Nakba durchzuführen, die die demographische Situation zwischen dem Fluss Jordan und dem Meer endgültig zu Gunsten der jüdischen Mehrheit verändern würde. Nun ist dies unerwartet zur realen Möglichkeit geworden. Seit dem Tag des Angriffs der Hamas wartete Netanjahu geduldig, bis die Zeit dafür reif war. Jetzt droht der israelische Staat, diesen zuvor unausgesprochenen Plan zu verwirklichen – und der Westen unterstützt dies durch sein Schweigen aber auch mit Taten. Dass ein Minister wie Katz mit der »Auswanderung« der Palästinenser aus Gaza so unverfroren ein Staatsverbrechen ankündigen kann, wird nur durch den völligen moralischen Zerfall der israelischen Gesellschaft ermöglicht.
Jetzt scheint allerdings zumindest die linksliberale Elite des Landes aufzuwachen: es finden in Israel und selbst innerhalb der Armee Proteste gegen den Krieg statt. Doch auch dabei bleiben die Rückkehr der Geiseln und der Kampf gegen Netanjahu die Hauptinteressen. Das Leiden der Palästinenser ruft dagegen immer noch wenig Emotionen in Israel hervor. Fast das ganze Land schaut desinteressiert und gelangweilt zu, während die Regierung die Vertreibung von zweihundertausend Menschen ankündigt. Dies wird an diesem Pessach als Kainsmal auf der Stirn des Judentums in die Geschichte eingehen.
Ido Arad ist Dirigent aus Israel und Aktivist in der Palästina-Solidarität.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (15. April 2025 um 12:06 Uhr)Einer hier angenommenen Voraussetzung widerspreche ich nun zum dritten Mal: Hier lesen wir, dass es durch den Angriff der Hamas »unerwartet« zur »realen Möglichkeit« geworden sei, Gebietsansprüche der jüdischen Bevölkerungsmehrheit umzusetzen. Also unerwartet: Deshalb stand zwischen Gaza und Israel nur ein Gartenzaun oder eine Ginsterhecke oder eine Reihe von Hinweisschildern, natürlich vollständig unbewacht. Wie es international üblich ist, wenn da drüben eine Terrororganisation Raketen startet? Keine Mauern, keine Wachtürme, kein Infrarot, keine Minen, keine Satelliten, keine Drohnen, keine Informant:Innen und: nicht eine einzige Wache mit Telefon? Sogar eine Person, die einer derart unglaublichen Darstellung auf den Leim geht, wird sich fragen, warum keine Verantwortlichen existieren? Oder wann die Suche starten kann? Oder was der Menschheit verschwiegen wird? Und vor allem: Aus welchem Grunde? – Diese Show läuft bereits seit anderthalb Jahren. Sie begann zwingend vor dem 7. Oktober, denn die Wachmannschaften waren ja offensichtlich nicht mehr vor Ort. Aber warum denn nicht?
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