Die graue Eminenz
Von Frank Schumann
Dahinter steckt immer ein kluger Kopf – warb mal eine Tageszeitung für sich. Womit man dem Leser schmeicheln wollte. Aber eigentlich war’s Selbstlob.
Es gab mal einen Minister, hinter dem ein Stabsorgan stand. Und dessen Leiter war der kluge Kopf dahinter. Also hinter Mielke. Doch darüber sprach man nicht. Aus Gründen der Konspiration im Klassenkampf. Und später verlor der Kopf darüber ebenfalls keine Silbe. Aus Bescheidenheit. Jene, die ihn und seine Rolle im Ministerium kannten, schwiegen ebenfalls. Nicht etwa, weil sie nachtragenden Zorn hätten fürchten müssen, sondern aus ehrlicher Hochachtung. Der Enttarnte wäre aber auch dann nicht laut geworden, denn er gehörte schon immer zu den Stillen. Er war einer der Leisesten im leisen Ministerium. Jene, die um ihn umgaben – seine Abteilung zählte um die vierhundert Mitarbeiter –, hatten nie ein lautes Wort von ihm gehört. Nur wenn er vernehmlich die Luft durch die Zähne zog, wusste man: Irgendetwas hatte seinen Unmut erregt, es herrschte dicke Luft. Doch selbst dann blieb er, im Unterschied zu anderen Vorgesetzten, ruhig und kontrolliert.
Auch in der Autorengruppe – zwölf Generäle, acht Oberste – trat er zurückhaltend auf. Die zwanzig Mann erarbeiteten um die Jahrtausendwende den Zweibänder »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS« (Edition Ost). Wenn man an den Zusammenkünften teilnahm, spürte man: Er war der Regisseur, das Zentrum, die graue Eminenz, die unauffällig die Fäden zog, Schwerpunkte setzte, Personen in Stellung brachte. Ohne Getöse, ohne Wichtigtuerei. Frei von Hektik. Das war hohe Stabskultur. Er hatte sie nicht verlernt. Was Wunder: Er hatte sie ein Vierteljahrhundert lang praktiziert. Seine Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) war das eigentliche Führungsinstrument des Ministeriums. Der Mann an dessen Spitze, der Minister, war schwer nur dazu fähig. Die beiden begegneten sich zwar auf Augenhöhe, was körperlich gewiss zutraf. Aber eigentlich überragte Irmler ihn. Der kluge Kopf dahinter.
Werner Irmler kam aus einer proletarischen Familie in Schlesien, machte nach dem Krieg eine Lehre im Forst, wurde Förster, Forstinstrukteur. 1952 ging er zum MfS, am Ende des Jahrzehnts war er bereits stellvertretender Leiter der ZAIG, wenige Jahre später deren Chef, was er dann bis zur Auflösung des MfS blieb. Er wurde promoviert, erhielt Orden und Beförderungen. Und bekannte am Ende selbstkritisch: »Gemessen an unserer Aufgabe, die DDR zu schützen und zu verteidigen, haben wir nicht bestanden – wie alle anderen auch nicht, die eine bessere DDR wollten.« Doch nicht nur zur Selbstermutigung meinte er: »Die Resignation ist groß. Doch sie darf nicht das letzte Wort sein.«
Er organisierte Autorenkollektive, ermutigte Schreiber, regte Themen an, die publizistisch bearbeitet werden sollten. Es gehe nicht um Schuld und Sühne, um Rechtfertigung und Selbstzerfleischung, sondern »wie man gemeinsam verhindert, dass Krieg, rechte Gewalt, existentielle Not, Angst und Perspektivlosigkeit weiter Einzug in den Alltag halten«, schrieb er 2002 im schon erwähnten Zweibänder. Es sollte das tatsächliche Standardwerk über die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit, die kompetenteste Antwort auf die Verdrehungen und Verleumdungen der Erinnerungsindustrie werden. Ein Gedenkstellenleiter in Hohenschönhausen, dessen Name längst vergessen ist, rief sofort: »Ein Fall für den Staatsanwalt.« Kein Grund für den Spiritus rector, um auch nur die Luft geräuschvoll durch die Zähne zu ziehen.
Am 15. April begeht Generalleutnant a. D. Werner Irmler am Rande Berlins seinen 95. Geburtstag. Wir gratulieren und sagen Dank. Für alles.
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