Die Stars verlassen die Show
Von Gisela Sonnenburg
Die junge Frau trägt ein Kostüm in den Farben des Regenbogens. Mit kessem Hüftschwung verzaubert sie lüsterne Soldaten in grunzende Schweine. Denn sie ist Kirke, die magische Schönheit, die bald mit Odysseus leben wird. Die Ballerina Madoka Sugai verkörpert das exotische Geschöpf in dem Ballett »Odyssee« von John Neumeier beim Hamburg-Ballett. Seit 2012 tanzt die Japanerin in Hamburg, seit sechs Jahren als Erste Solistin. Doch ihre Auftritte dort sind gezählt. Am 20. Juli wird sie bei der »Nijinsky-Gala L«, der 50. Sommergala beim Hamburg-Ballett, ihren Abschied nehmen. Freiwillig. Wie es für sie weitergeht, ist ungewiss.
So etwas ist im Ballett absolut ungewöhnlich. Wer sich in einem Ensemble bis an die Spitze getanzt hat, als Star und Publikumsliebling gilt, bleibt normalerweise dort – oder sucht sich was noch Besseres. Gerade beim auf die Stücke von John Neumeier spezialisierten Hamburg-Ballett herrscht große Treue. Einige hoffen auch darauf, nach der Bühnenkarriere als Tanzlehrer oder Ballettmeister zu bleiben. Doch zusammen mit Madoka Sugai verlassen noch drei weitere Stars zum Saisonende die berühmte Tanztruppe. Nachdem ich online in meinem Ballett-Journal darüber geschrieben hatte, bestätigte die Presseabteilung vom Hamburg Ballett den Vorgang am letzten Mittwoch. Der italienische Ballerino Jacopo Bellussi wird sich sogar schon am 1. Juni verabschieden: in der Rolle des Romeo. Es ist, als würden die bekanntesten Gesichter einer Fernsehshow geschlossen abtreten. Und zwar mit unüblich kurzen Kündigungsfristen. Denn normalerweise wird im Ballett personell mindestens ein Jahr im Voraus geplant.
Das Hamburger Publikum wird unruhig. Seit Beginn dieser Spielzeit versucht der neue, noch junge Hamburger Ballettintendant, der Deutsch-Argentinier Demis Volpi, seine Auffassung eines angemessenen Programms durchzusetzen. Er will »verschiedene choreographische Handschriften« vorführen und brachte bislang glänzende Namen nach Hamburg: die Tanztheaterikone Pina Bausch, den New Yorker Newcomer Justin Peck, den US-amerikanischen Avantgardisten William Forsythe. Auch eigene Arbeiten zeigt Volpi, der zur Zeit an seiner ersten Hamburger Uraufführung arbeitet (»Demian« nach Hermann Hesse). Doch die Vorstellungen mit den gemischten Programmen sind nur selten gut besucht.
Ausverkauft sind hingegen, wie schon in den vergangenen Jahrzehnten, die Stückaufführungen von John Neumeier. Der bereits als Jahrtausendgenie bezeichnete Choreograph machte Hamburg mit Tanz weltberühmt. Mehr als 170 Stücke bilden sein Werk – um diese zu tanzen, werden in der Schule vom Hamburg-Ballett und in der Company Leute eingesetzt, die mit ihnen viel Erfahrung, sprich »Neumeier-Kompetenz« haben. Experten und Publikum sind sich darin einig wie selten, dass Neumeiers Stücke nicht mit anderen vergleichbar sind.
Aus Altersgründen gab Neumeier die Leitung des Apparats, den er begründete, ab. Jetzt fliegt der 86jährige von Kontinent zu Kontinent, um seine begehrten Ballette einzustudieren. Demis Volpi hingegen reduzierte Neumeiers Anteil auf dem Spielplan. Kommende Spielzeit sollen nur noch fünf Stücke des Tanztitans gezeigt werden – früher waren es ein Dutzend und mehr. Man fragt sich: Will Volpi Hamburgs Ära als Neumeier-Metropole beenden? Hat er dafür den Rückhalt oder sogar den Auftrag aus der Politik?
Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda (SPD) findet alles ganz normal: »Intendantenwechsel bringen immer auch Veränderungen und personelle Wechsel mit sich.« Er wähnt Volpi »sehr erfolgreich« und die Pläne für die kommende Saison »vielversprechend«. Die Mehrheit des Ballettpublikums sieht das anders. Nicht mal pure Klassik – die im Ballett immer ein Verkaufsknüller ist – kommt jetzt noch auf den Spielplan. Neumeier war klug und zeigte regelmäßig sowohl Klassik als auch Stücke anderer Choreographen. Im Kern aber ging es um seine eigene Arbeit.
Heute entwickelt sich das Hamburg-Ballett zu einem Gemischtwarenladen, den es so überall auf der Welt geben könnte. Und das interne Betriebsklima wurde offenbar so abschreckend, dass Menschen, die bisher ihren Lebensinhalt beim Hamburg-Ballett sahen, die Unsicherheit vorziehen.
Demis Volpi verrät nicht, ob ihn der Abgang der Stars stört. In austauschbar wirkenden Statements lobt er die Gehenden, wünscht ihnen alles Gute. Dabei hat nur der jüngste der Abtretenden, Alessandro Frola (24), schon ein neues Engagement in der Tasche, beim Wiener Staatsballett. In Hamburg findet der Exodus der Stars hingegen kein Ende: Für nächstes Jahr haben Edvin Revazov und seine Partnerin Anna Laudere, beide bedeutende Neumeier-Musen, ihren Abschied angesagt. Hamburgs Ballett, so der Eindruck, blutet aus.
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