Der neue Judas
Von Kai Köhler
Nein, den Judas will er nicht spielen. Der hat Jesus Christus verraten. Panait bleibt störrisch, da kann der Dorfpriester Grigoris noch so gute Argumente dafür anführen, dass der Handwerker die Rolle im Passionsspiel übernimmt: Panait werde doch die Figur nur darstellen, nicht Judas sein. Und: Ohne den Verräter Judas keine Kreuzigung, also keine Erlösung der Menschen, keine Wiederauferstehung.
Von Anfang an wird deutlich, dass diese Aufführung der Passion Christi ohne eine enge Verknüpfung mit der Realwelt nicht auskommen wird. Die Aposteldarsteller lernen nicht nur ihre Texte, sondern setzen sich mit dem Inhalt auseinander. Noch weiter geht der Hirt Manolios, der sich ganz mit seiner Rolle als Jesus identifiziert.
Der Ernstfall tritt ein, als in dem wohlhabenden Ort Flüchtlinge eintreffen. Auch sie sind Griechen, wurden von Türken vertrieben und sind nun arm, heimatlos, hungrig. Priester Grigoris sieht seine wohlgeordnete Welt in Gefahr und weist die Fremden mit der Lüge zurück, sie brächten die Cholera. Manolios widersetzt sich und erreicht, dass die Flüchtlinge sich auf einem nahen Berg ansiedeln dürfen.
Der Konflikt geht hier nicht um Kultur, sondern darum, Ruhe und Besitz vor Ankömmlingen zu sichern. Bohuslav Martinůs 1956/57 komponiertes Werk sollte im März 2020 an der Staatsoper Hannover inszeniert werden, was an der Coronapandemie scheiterte. Nun, gut fünf Jahre später (Premiere am 11. April) und kurz vor der Zerschlagung dessen, was vom Asylrecht noch übrig geblieben ist, drängt sich die Thematik noch mehr auf. Ein Manolios ist freilich heute nicht in Sicht. Als in der Oper die Flüchtlinge auf ihrem Berg immer noch hungern und die Kinder zu sterben drohen, radikalisiert der Hirt die christliche Nächstenliebe ins Sozialrevolutionäre. Zeitweilig überzeugt er sogar die Mehrheit in seinem Dorf, doch die etablierten Mächte mit dem Priester an der Spitze wehren sich. Das Spiel wird real, und ausgerechnet Panait gibt den Judas und tötet den neuen Jesus.
Man muss nicht lange raten, weshalb das Royal Opera House London künstlerische Gründe zusammensuchte, die für 1958 geplante Uraufführung abzusagen. Der tschechische Komponist mochte politisch unverdächtig sein – Martinů war vor der Naziherrschaft ins US-Exil geflüchtet und nach 1945 wegen der kommunistischen Regierung nicht in seine Heimat zurückgekehrt. Seine Oper, nach dem Roman »Christus wird wieder gekreuzigt« von Nikos Kazantzakis, war es nicht.
Martinů erstellte eine Zweitfassung, die 1961, nach seinem Tod, uraufgeführt und auch in der Tschechoslowakei mehrfach inszeniert wurde. In Hannover kommt indessen die erste Version auf die Bühne, die dramaturgisch kleinteiliger ist. Für sie gilt, was überhaupt das Spätwerk Martinůs auszeichnet: Überkommene Großformen fehlen. An ihrer Stelle wagt der Komponist einen kaleidoskopartigen Wechsel der Stile und Stimmungen, in der Zuversicht, dass dieser locker gefügte Aufbau das Ganze trägt. Choralartiges steht neben Folkloristischem, arioser Gesang wechselt sich mit musikdramatischem Rezitativ und Gesprochenem ab. Orchestrale Steigerungen gewinnt Martinů weniger aus herkömmlicher Thematik als aus rhythmisch bestimmten Zellen, die er variiert und verdichtet. Das Niedersächsische Staatsorchester macht das unter Stephan Zilias eindrucksvoll hörbar.
Wie aber geht man heute mit dem Christlichen um, das das Werk entscheidend prägt? Es ist sicherlich kaum mehr im Sinne eines naiven Glaubens vorhanden. Für die Oper gilt, was in Europa anderthalb Jahrtausende Praxis war und in den meisten Teilen der Welt immer noch Praxis ist: dass gesellschaftliche Konflikte als religiöse Konflikte verhandelt werden. Die Regisseurin Barbora Horáková weicht dem nicht aus, sondern akzentuiert es sogar noch in zwei großen Projektionssäulen (Videos: Sarah Derendinger), die rechts und links der Hauptbühne aufragen.
Das weckt anfangs Befürchtungen, schließlich gibt es in Oper und Theater zahlreiche Inszenierungen, in denen übermächtige Videos die lebenden Darsteller auf der Bühne verzwergen. Hier aber bleibt deren Spiel und Gesang der Mittelpunkt, den die Videos flankieren. Man kann kritisieren, dass in den Projektionen christliches Bildererbe vorherrscht, von Jesus-Gemälden bis hin zur blutigen Schlachtung von Lämmern. Aber damit nimmt die Inszenierung das Religiöse als Kampfplatz des Weltlichen ernst, wie es sich in Roman und Oper finden lässt.
Unterstützt wird dies durch ein überzeugendes Sängerensemble. Hervorzuheben sind Shavleg Armasi als Grigoris, Marcell Bakonyi als sein priesterlicher Widerpart aufseiten der Flüchtlingsgruppe und Marco Lee als Yannakos, der den Petrus zu spielen hat und entsprechend zwischen Treue zu Jesus und Verrat schwankt. Eliza Boom gibt überzeugend Katerina, die Maria Magdalena des Passionsspiels, die zur Versuchung für Manolios wird. Den singt Christopher Sokolowski mit einer vielleicht etwas zu metallischen Stimme.
Doch passt dies zur Regiekonzeption, das Kämpferische des neuen Jesus zu problematisieren. Übt nicht auch Manolios Gewalt aus, wenn er die Reichen zum Teilen zwingen will? Das sind aber nur aktuelle Bedenklichkeiten, Martinůs Musik lässt keine Distanz zu der Figur und ihren Mitteln erkennen. Am Ende ist der Sozialrevolutionär tot, die Flüchtlinge müssen weiterziehen, derweil Grigoris mit seinem Dorf Weihnachten und die Geburt des Erlösers besingt. Die Musik wechselt hin und her zwischen Verklärung und Bitterkeit; so zweifelt man, dass der neue Judas eine neue Erlösung brachte.
Nächste Aufführungen: 22.4., 25.4., 3.5.
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