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Aus: Ausgabe vom 24.04.2025, Seite 10 / Feuilleton
Metal

Der Körper als Käfig

Begrenzte Freiheit: Die Metalcore-Band Boundaries spielte in Leipzig
Von Ken Merten
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Entspannt rumsitzen, brachial aufspielen: Boundaries

Immer dieses Gequetsche: Verspätungen und Ausfälle ist man ja auf der Strecke zwischen Chemnitz und Leipzig gewohnt, seit Ende vergangenen Jahres die DDR-Abteilwagen durch spürbar störungsanfälligere DB-Doppelstöcker ersetzt wurden. Am Ostersonntag verdarb einem zudem ein großes Polizeiaufgebot das Lümmeln vorm Chemnitzer Hauptbahnhof, während man auf Anschluss wartete. Die eskortierten Erfurter Fußballfans nach einer 0:2-Auswärtsniederlage zurück nach Hause. Natürlich ging es über Leipzig, und der Platz wurde eng. Drei Bielefelder Osterausflügler hatten sich wie ich den Sachzwängen entsprechend in die erste Klasse gesetzt. Nette Kerle: Den sichtlich nervösen Zehnjährigen, der alleine von Mutti zu Vati fuhr, bespaßten die Ostwestfalen mit »Ich sehe was, was du nicht siehst«, sich und mich mit lauwarmem Hopfenblütentee – »Hafferöder«, wie sie nicht müde wurden zu wiederholen, ob der Frakturtypo auf dem Etikett. Zum Abschied versprachen sie mir, sich in Berlin den Pokal zu holen.

Aber auch abends war der Körper im Weg: Naumanns Tanzlokal im Obergeschoss des Plagwitzer Felsenkellers war an seiner Kapazitätsgrenze. Die recht junge Metalcore-Band Boundaries aus dem US-amerikanischen Hartford (Connecticut) hatte sich angekündigt. Meine Hoffnung, mit einer Handvoll Eingeweihter einen lockeren Abend mit viel Sichtfreiheit zu haben, hatte sich schon vorab zerschlagen: Das 2013 gegründete Quintett kam gerade von einer ausverkauften Klubshow in Berlin – schön für die Jungs, die mit ihrem dritten Langspieler »Death Is Little More« das beste Metalcore-Album des vergangenen Jahres veröffentlicht hatten und es nun Europa vorspielten. Dazu später mehr.

Während noch im Vorraum bei den Merchständen durchgegangen wurde, welcher Szenemusiker sich neuerdings mit Vorwürfen der häuslichen Gewalt und/oder der Russland-Sympathie konfrontiert sah, legten No Face No Case los: Die Prager kippten kaum verrührten Beatdown, Rap und Trance ineinander; der Sänger hatte mit seiner postironischen Aufmachung etwas Fred-Durstiges an sich; apropos: Der Schweiß perlte jetzt schon die Wirbelsäule hinab, und die Bar war nur in den Pausen gut erreichbar. Der Frontmann war es auch, der den Funken überspringen ließ: »Show me your stupidest moves!« Wo fast ausschließlich auf Effekt abgezielt wird, da ist das Ergebnis nah am Animalischen.

Anschließend kamen die Hamburger Dagger Threat dran: Deren Nähe zum britischen Hardcore, der sich derzeit um das Malevolence-Label MLVLTD Music schart, ist nicht nur geographisch bedingt. Eben noch sei man im Studio gewesen und habe das dritte Album aufgenommen, eine Kostprobe gab es zu hören, ehe mit einem Cover von Slipknots »(sic)« der Versuch einer Abrundung nicht wirklich geriet. Das mag an den grundsätzlichen Friktionen zwischen dem, was Slipknot macht, und dem, was Hardcore ist, liegen: So durchkomponiert jedes Stück der neunköpfigen Nu-Metal-Granden ist, immer geht es darum, dass sich die vielen Einzelteile nicht gegenseitig zerschießen; derweil ist Hardcore recht simpel gestrickt und wird erst durch die Praxis zum wuchtig-widerborstigen Klangkomplex. Die einen sortieren Chaosnahes, die anderen schießen über ihre eigene Ordnung hinaus.

Blabla. Äußerst unglücklich gehören zu den Symptomen des Älterwerdens nicht nur Hörschäden, sondern auch Gedächtnisprobleme: Ich hatte meine Ohrstöpsel vergessen, die ich mir nach dem akustisch unbefriedigenden Konzert von While She Sleeps im Leipziger Täubchenthal vergangenen November zugelegt hatte. Heißt also: Vielleicht habe ich mich hier grundsätzlich verhört und schwafle deshalb. Immer versagt der Körper.

Während Varials, die mit Boundaries zusammen über den großen Teich gehopst sind, hat der hinter mir auch so seine Sorgen mit sich, die er nicht bei sich behalten kann: Einerseits hatte er wohl seine tägliche Gutturalgesangsübung vergessen und holte sie vor Ort nach; andererseits fand der Lumich den Moshpit nicht, also schubste er da, wo niemand, zumindest nicht ich und die in meiner Reihe, schubsen wollte. Er wird das hier nicht lesen, aber: Kunde, du nervst!

Mit Varials endete für den Abend, was sich irgendwie mit Beatdown befasste, also der mehr oder minder vollständig entkleideten Art, Hardcore mit seinen brachialsten Mitteln zu spielen. Sowas nimmt natürlich mit, und ganz ohne Rahmung geht es nicht, da kann man noch so viele Breakdowns und Blastbeats zusammenbasteln. Nichtsdestotrotz hat man den Eindruck, dass dabei auf das große Ganze gepfiffen wird. Wie das Kind, das statt Beilagen lieber ein zweites Schnitzel auf dem Teller haben will. Ein primär körperliches Bedürfnis.

Boundaries dagegen zeichnet aus, dass sie gleichzeitig variabler als ihre Vorbands sind – was der Abend nochmals unterstrich. Andererseits sind ihre Mittel konservativ: Metalcore hat mittlerweile auch seine Geschichte, und für viele Bands, etwa Architects und Underoath, ging es weit weg vom Ursprünglichen, zumal die Nachwachsenden (Poppy zum Beispiel) längst einen anderen Zugriff haben. Auch wenn Boundaries Nachgeborene sind, gehen sie tief ins alte Material, weil es noch nicht aufgebraucht ist. Innerhalb ihrer Grenzen ist die Freiheit: Selten war ein Bandname so treffend, formal wie inhaltlich. Herausgekommen ist dabei etwas in Richtung Counterparts, vielleicht mit weniger Störsignalen und von anders her nahe am Kitsch gebaut. Die große Innovation aber ist der wahnsinnig starke, mit Überraschung arbeitende Umgang mit Tempowechseln. Sowas kriegt man sonst vielleicht von Converge.

Thematisch ballern Boundaries mit Menschheitsproblemen: »My body is a fucking cage / It holds in all of the things I hate / My only chance of escape / My body is a cage, it was built to break.« Chat-GPT hat noch niemanden aus seinem Körper befreit. Wem es darin nicht behagt, der kann ihn bis zu gewissen Punkten reformieren, aber lebendig kommt er nicht raus. An dieser Grenze macht bisher jeder Fortschritt halt. Auch für eine Katy Perry ist es leichter, die Erde zu verlassen, als sich.

Weder Planet noch Körper ließ sich verlassen, als nach dem wunderbaren Konzert das österliche Superwetter verflogen war und mir ein Regenguss den Weg zur Tram vermieste. Sei’s drum.

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