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Aus: Ausgabe vom 28.04.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Maden im Müll

Ambibalenz der Schönheit: Saulė Bliuvaitės sehenswerter Film »Toxic« über Models und Modelagenturen in der litauischen Provinz
Von Holger Römers
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Damit kommen sie noch halbwegs zurecht: Marija und Kristina in der Agentur

Die 13jährige Kristina (Ieva Rupeikaitė) verunstaltet mit Filzstift und glimmender Zigarette ein Foto, das als Plakatmotiv für ein Modelcasting wirbt. Der kreative Vandalismus steht in einer Tradition von Dada bis Punk, zu der auch andere Elemente einer Ästhetik des Hässlichen passen, die die Regisseurin und Drehbuchautorin Saulė Bliuvaitė in ihrem Spielfilmdebüt »Toxic« einsetzt.

Die dünne, elliptische Handlung beginnt, als die zweite jugendliche Hauptfigur gerade ungewollt in einem anonymen litauischen Provinzkaff einquartiert worden ist: Marija (Vesta Matulytė) ist von ihrer unsichtbar bleibenden Mutter zur Großmutter (Eglė Gabrėnaitė) abgeschoben worden, die ihren kümmerlichen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Blumen und Wahrsagerei verdient. Am fremden Ort kommt es zunächst zu handfesten Reibereien mit Kristina, die wiederum mit ihrem Vater (Giedrius Savickas), einem wegen Alkoholismus zu ständiger Untätigkeit veranlassten Taxifahrer, eine verwahrloste Hütte bewohnt. Während sich zwischen den beiden Teenagern allmählich eine spröde Freundschaft entwickelt, rückt Vytautas Katkus’ agile Handkamera regelmäßig Rost und Dreck, regennassen Asphalt und verwitterte Graffiti ins Bild. Ein Weitwinkelobjektiv unterstreicht indes, dass Zeichen von Deindustrialisierung und gesellschaftlichem Verfall bis zum Horizont reichen, der von längst stillgelegten Hochöfen und Fabrikschornsteinen akzentuiert wird.

Diese vermeintliche Antiästhetik gipfelt folgerichtig in einer Nahaufnahme von Maden im Müll. Doch spätestens das Panoramabild eines Sonnenaufgangs über dem verschmutzten Ufer eines Stausees macht bewusst, dass die 1994 geborene litauische Filmemacherin, dem historischen Beispiel der Romantik folgend, inmitten ausgestellter Dekadenz auch Schönheit erkennen will. Diese Doppeldeutigkeit entspricht in gewisser Weise der Widersprüchlichkeit der beiden Protagonistinnen, denn die lassen sich trotz ihrer rotzigen Renitenz von besagtem Plakat zum kostenpflichtigen – und entsprechend dubiosen – Casting anregen.

Wenn Bliuvaitė ihre Hauptdarstellerinnen kotzen lässt, passt das also nicht bloß stilistisch, es ist auch inhaltlich motiviert: Eine Vertreterin (Vilma Raubaitė) der angeblichen Modelagentur kontrolliert mit Maßband das bulimische Schönheitsideal, dem die jungen Bewerberinnen sich unterwerfen müssen. Vor allem Kristina zeigt sich wild entschlossen, entsprechende Maßgaben durch Einnahme eines denkbar unappetitlichen (und selbstredend ungesunden) Mittels zu erfüllen, was nach Aussagen der Filmemacherin offenbar mindestens in groben Zügen auf eigenen Jugenderfahrungen basiert.

Da mag es als Sabotage des gängigen Schönheitsbegriffes erscheinen, dass das Drehbuch Marija ein angeborenes Hinken zuschreibt, das sie unter den Möchtegernmodels förmlich aus der Reihe tanzen lässt, wie die Kamera in Totalaufnahmen von eingeübten Choreographien vor Augen führt. Folgerichtig zeigt die Inszenierung auch bei Nebenfiguren körperliche Unregelmäßigkeiten, wobei jedoch spätestens eine frontale Großaufnahme, die im Gesicht eines Mannes dessen Glasauge betont, die Frage nach dem tatsächlichen Effekt aufwirft. Wenn der junge Kerl, nachdem er in die Kamera geblickt hat, gekonnt einen Salto vollführt, wirkt das durchaus glamourös. Ähnliches kennen wir freilich von Fotos und Videos, mit denen die Mode­industrie für ihre Waren wirbt. Deren Ästhetik hat bei der Auswahl ihrer Models ja längst punktuelle Normabweichungen als reizvolle Akzente vereinnahmt.

Um so differenzierter kann in diesem Film, der 2024 das Festival von Locarno gewonnen hat, die Milieuschilderung zur Geltung kommen. Sie kontrastiert mit dem Flair der großen weiten Welt, das die Modelagentur für sich behauptet und das Coming-of-Age-Filme gern mit der Verheißung künftiger Selbstverwirklichung verknüpfen. Dazu passt, dass Marija gleich zu Beginn wegwill und dass Kristina zuletzt von ihrem Vater einen entsprechenden, gutgemeinten Rat erhält. Was ein angebliches Model von seinem Aufenthalt in New York berichtet, klingt allerdings nach verbrämter – und deshalb erst recht unberechenbarer und potentiell gefährlicher – Prostitution. Mit den armseligen Umständen, in denen sie vorerst feststecken, scheinen die Protagonistinnen dagegen halbwegs selbstsicher zurechtzukommen – auch wenn sie sich regelmäßig der Zudringlichkeiten irgendwelcher Typen erwehren müssen.

»Toxic«, Regie: Saulė Bliuvaitė, Litauen 2024, 99 Min., bereits angelaufen

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