Frankreichs Indigènes
Von Bernard Schmid, Paris
Dieses Jahr ist die Befreiung vom Faschismus 80 Jahre her. Doch in Frankreich hat die Erinnerung daran einen doppelten Charakter. Ihn zu thematisieren, fordert ein aktueller Appell, der maßgeblich von dem linken Hochschullehrer Olivier Le Cour Grandmaison initiiert wurde. Denn am 8. Mai 1945 und den darauffolgenden Tagen schlachtete die französische Staatsmacht nach Unabhängigkeitsforderungen, die von heimkehrenden Weltkriegssoldaten unterstützt wurden, in den algerischen Städten Sétif, Guelma und Kherrata Tausende, wenn nicht Zehntausende Menschen ab.
Diese Verbrechen ins Bewusstsein zu rufen, ist ebenso notwendig wie der Hinweis, dass koloniale Strukturen weiterhin prägend für die französische Gesellschaft, die Politik und den Staatsapparat bleiben. Dies gilt nicht nur für den Umgang mit früheren Kolonien. Erst am 19. Februar wurde in der »Überseekommission« der Nationalversammlung die Forderung diskutiert, dass die 1973 ratifizierte »Europäische Sozialcharta«, die bestimmte soziale Grundrechte festschreibt, endlich auch auf die im Staatsverband verbliebenen »Überseegebiete« Anwendung finden soll. Doch diese bleiben, so will es die Regierung, weiterhin ausgeschlossen.
Religion rassifiziert
Nicht jede Strömung, die gegen das Fortbestehen kolonialer Strukturen in Frankreich kämpft, kann automatisch als fortschrittlich gelten. Ein Aufruf zur Anerkennung der Kolonialmassaker von 1945, der vor ihrem sechzigsten Jahrestag 2005 veröffentlicht worden war, führte zur Herausbildung einer kleinen, aber hyperaktiven Strömung, die sich selbst als Indigènes de la République (Eingeborene der Republik, IR) bezeichnet. Zeitweilig hatte sie sich sogar als Partei unter dem Kürzel PIR konstituiert. Heute versucht ihre frühere Galionsfigur, die im Hauptberuf als Psychologin für die Stadt Paris arbeitende Schriftstellerin Houria Bouteldja, eher, auf die linke Partei La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI) Jean-Luc Mélenchons Einfluss zu nehmen.
Die Indigènes haben erheblich polarisiert. Kritik kam beileibe nicht nur von Reaktionären, in deren Augen sie einen »umgekehrten Rassismus« vertreten und die Speerspitze des »wokistischen« Übels darstellen. Während die Rechte sich etwa darüber ereiferte, durch die Wortschöpfung »Souchiens« – abgeleitet von »Français de souche«, einem rechten Begriff für »Abstammungsfranzosen« – habe Bouteldja diese angeblich als »unter den Hunden« (sous le chiens) bezeichnet, kam von seiten der Linken, die über ihr Verhältnis zu den Indigènes zerstritten war, auch ernstzunehmende Kritik.
Kernmerkmal der IR-Strömung ist, dass sie »Rasse« – durchaus nicht als angebliche biologische Tatsache, sondern als soziale Konstruktion »ähnlich Geschlecht und Klasse« gedacht – als absolut zentralen politischen Widerspruch in Frankreich und in vergleichbaren Gesellschaften ansieht. Ihre Grundlagen entliehen sich die Indigènes vor allem zu Anfang bei der schwarzen Emanzipationsbewegung der 1950er und 60er Jahre in den USA. In dieser war relativ unbefangen von »Rassen« und »Race relationships« gesprochen worden.
Nun ist allerdings in den USA das Merkmal der Hautfarbe historisch zu einem wichtigen sozialen Unterscheidungsmerkmal geworden, während konstitutive Merkmale der angeblichen subalternen »Rasse« von den Indigènes nicht in angeborenen Faktoren wie der Hautpigmentierung, sondern etwa in der Zugehörigkeit zum Islam verortet werden sollen. Der Hauptkritikpunkt an den frühen IR lautete entsprechend, dass sie die Zugehörigkeit zu unterdrückten oder benachteiligten »Rassen« explizit von der Frage der sozialen Klassenzugehörigkeit zu trennen versuchten – während etwa die auch in Frankreich sehr reale Diskriminierung im Arbeitsleben just von der Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung abhängt. Die Führungspersonen der IR haben jedoch stets betont, die Klassenzugehörigkeit in den Vordergrund zu rücken bedeute, sich der Linken unterzuordnen. Diese sei jedoch »farbenblind« und habe sich in der Vergangenheit nur unzureichend vom (Post-)Kolonialismus gelöst. Generell gelte es, sich als selbständige Kraft »autonom zu organisieren«.
Die einseitige Betonung einer rassifizierten Zugehörigkeit als Merkmal der Unterprivilegierten hat die Indigènes wiederum dazu verleitet, anderen Zugehörigkeiten als Grundlage für einen politischen Kampf die Legitimität abzusprechen. Dies gilt für geschlechtliche Identitäten in jeglicher Hinsicht, nicht nur für sexuelle Minderheiten. Anlässlich der Debatten um die »Ehe für alle«, die 2013 eingeführt wurde – also die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – argumentierte Bouteldja, diese Frage stelle sich für die Bewohner sozial benachteiligter Wohngegenden mit hohem Migrationsanteil gar nicht.
Nebenwidersprüche
Dabei leugnete die Psychologin nicht, dass es homosexuelle Menschen auch in den fraglichen Wohnvierteln gibt – bestritt allerdings vehement, dass diese Zugehörigkeit identitätsstiftend wirke: »Die ›Ehe für alle‹ betrifft nur die weißen Homosexuellen. Wenn man arm ist, prekär arbeitet und unter Diskriminierung leidet, dann ist es die Solidarität der Gemeinschaft, die zählt.« Die Hilfsorganisation Le Refuge erwiderte darauf, jungen Homosexuellen in den betreffenden Vierteln werde es zusätzlich erschwert, sich zu outen, falls dieser Diskurs Anklang finde. Fünfzig Prozent der jungen Homosexuellen, die in Heimen der Organisation Zuflucht vor Stigmatisierung im familiären und sozialen Umfeld suchten, kämen aus diesen Wohngegenden.
Alles in allem ähnelt Bouteldjas Position jener, die in Teilen der Linken bezogen wurde, als in den späten 1960er und frühen 70er Jahren Themen wie Frauenbewegung und Homosexuellenemanzipation eine stärkere Rolle zu spielen begannen – worauf Anhänger eines theoretisch verkürzten Marxismus antworteten, dies seien »Nebenwidersprüche«, die hinter dem Hauptwiderspruch zwischen den Klassen zurückzutreten hätten oder durch dessen Überwindung automatisch gelöst würden.
Ähnlich äußerte sich Bouteldja zum Thema Frauenunterdrückung. Diese leugnet sie keineswegs. Allerdings behauptete sie, das Machotum »eingeborener« Männer leite sich direkt aus ihrer eigenen Unterdrückung ab: »Man muss hinter der testosterongeladenen Männlichkeit des eingeborenen Männchens den Anteil, der der weißen Dominanz widersteht, erahnen.« Die betroffenen Individuen versuchten, ihr durch Diskriminierung gebrochenes Selbstwertgefühl durch betontes Männlichkeitsgehabe wiederherzustellen.
Diese Auffassung wurde 2016 auf einem Blog der Internetzeitung Mediapart durch die Autorin »Mélusine 2« in Zweifel gezogen. Demnach leugne Bouteldja, die viel von autonomen Selbstorganisierungsprozessen der Racisés (Rassifizierten) spricht, ihrerseits die Legitimität autonomer Emanzipationsprozesse der Frauen. Allerdings sei die Situation der Frauen in rassistisch diskriminierten Gruppen eine andere als die weißer Frauen: Es gelte, sowohl der Selbstunterordnung in einer konstruierten ethnischen Gruppe als auch dem weißen Scheinuniversalismus zu widerstehen.
Auf ähnliche Weise wie die Emanzipationsbestrebungen sexueller Minderheiten sowie der weiblichen Bevölkerung ordnet Bouteldja auch die Frage sogenannter Mischehen dem von ihr definierten »strategischen Interesse der Eingeborenen« unter. So verfocht sie die Auffassung, Eheschlüsse zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Partnern seien dann akzeptabel, wenn der nichtmuslimische Partner zum Islam konvertiere. Wobei kaum Religiosität aus ihr sprach, sondern vielmehr der Wunsch, eine konfessionelle Zugehörigkeit als »Identitätsmarker« zu benutzen.
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