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Aus: Ausgabe vom 03.07.2024, Seite 8 / Ausland
Politische Verfolgung in der Türkei

»Das Regime versucht, ihre Auslieferung zu erzwingen«

Türkei: Neue Anklage gegen im französischen Exil lebende Soziologin Pınar Selek. Ein Gespräch mit Lou Marin
Interview: Gitta Düperthal
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»Gerechtigkeit für Pınar Selek«: Solidaritätskundgebung für die von der türkischen Justiz vehement verfolgte Professorin (Istanbul, 24.1.2013)

Seit 26 Jahren wird Pınar Selek in der Türkei politisch verfolgt. Die Soziologieprofessorin lebt im Exil in Frankreich. Am vergangenen Freitag fand ein Prozess gegen sie in Istanbul statt, wobei sie erneut der angeblichen Beteiligung an einem vermeintlichen »Terroranschlag« beschuldigt wurde. Von dem Vorwurf war sie bereits mehrfach freigesprochen worden. Welche neuen Anklagepunkte wurden vorgelegt?

Die neue Anklage der türkischen Staatsanwaltschaft enthält eine weitere infame Lüge. Pınar soll angeblich einen Vortrag bei einer wissenschaftlichen Veranstaltung gehalten haben, der von der Arbeiterpartei Kurdistans PKK organisiert worden sein soll, die der Staatsanwalt als »Terrororganisation« bezeichnet. Pınar hielt in der Tat am 11. April 2024 einen Vortrag »Migrantinnen und die kurdische Frage«. Organisiert war der allerdings nicht von der PKK, sondern von URMIS, also der Unité de Recherche, Migrations et Société. Getragen wird URMIS von französischen Hochschul- und Forschungseinrichtungen, unter anderem den Universitäten Paris Cité und Côte d’Azur. Obgleich Pınar lebenslange Haft droht, wird die insgesamt konstruierte und beweislose Anklageschrift durch weitere Unterstellungen ergänzt. Teile des Wissenschaftsbetriebs werden verleumdet. Ihre türkische Anwältin hat das vor Gericht klargestellt, ihr französischer Anwalt durfte vor Gericht nicht sprechen.

Wie fügt sich das aus Ihrer Sicht in das Bild eines Frankreichs, in dem der extrem rechte Rassemblement National, RN, gerade 33 Prozent im ersten Wahlgang holte?

Es könnte so kommen, dass Präsident Emmanuel Macron für Außenpolitik und Armee zuständig wäre, und der RN für Innenpolitik. Ein genereller Angriff auf die Armen und die Sozialversicherungen könnte folgen. RN will die doppelte Staatsbürgerschaft beenden, genau wie das sogenannte Bodenrecht: Wer in Frankreich geboren ist, soll nicht mehr automatisch das französische Staatsbürgerrecht erhalten. RN-Parteichef Jordan Bardella will Berufsverbote bei »strategischen Posten des Staates« gegen Franzosen mit doppelter Staatsangehörigkeit verhängen. Wenn jetzt möglicherweise eine Pattsituation entsteht zwischen dem französischen Präsidenten und den Neofaschisten des RN – ich nenne sie bewusst so, weil man sie nicht als extrem rechts verharmlosen sollte – kann man Pınar nicht direkt abschieben. Sie ist in Frankreich noch sicher, weil sie die alleinige französische Staatsbürgerschaft hat. Das türkische AKP/MHP-Regime versucht durch Interpol sowie durch Druck auf französische Institutionen ihre Auslieferung zu erzwingen. Der türkische Innenminister hat diese erneut beantragt.

Bei den Wahlen in Frankreich erhielt das Linksbündnis Nouveau Front Populaire rund 28 Prozent der Stimmen, das abgeschlagene Regierungsbündnis »Ensemble« 20 Prozent. Gibt es mit der Stichwahl am Sonntag Chancen für eine andere Regierung?

Sollte Macron dazu aufrufen, im Zweifel für linke Kandidaten zu stimmen, könnten Neofaschisten nicht profitieren. Macrons Lager ist aber gespalten, Teile sympathisieren mit letzteren. Es gibt ein großes Stadt-Land-Gefälle. So konnte RN 33 Prozent holen, obwohl es in Großstädten eine antifaschistische Szene gibt. Die linke Bewegung und die Gewerkschaften reagierten schon mit Protesten und Streiks, als Macron das umstrittene Rentengesetz mit dem von 62 auf 64 Jahre erhöhten Rentenalter durchsetzte. Parallelen gab es aber in der Geschichte Frankreichs bereits 1936: Bürgerliche und linke Kräfte kamen zusammen, um die Faschisten von der Macht fernzuhalten. Daher nennt sich das linke Bündnis »Neue Volksfront«.

Wie kann die Solidarität für Pınar Selek weitergehen?

Der Prozess wurde auf den 7. Februar 2025 vertagt. Wir müssen den Protest über alle Grenzen hinweg mit Solidaritätsveranstaltungen in Wien, Mainz und Marseille aufrechterhalten. Das ist in Pınars Sinn, die sich als transnationale Anarchistin und Feministin versteht. Aus den USA reiste sogar die Bürgerrechtlerin Angela Davis an, um sie zu unterstützen.

Lou Marin lebt in Marseille, ist Mitglied des Kollektivs des Verlags Graswurzelrevolution und Übersetzer des Buches »Die Unverschämte, Gespräche mit Pınar Selek« (2023)

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