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Aus: Ausgabe vom 03.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Sanftmütig wie Hölle

John Grant schafft auch auf seinem neuen Album den Sprung vom Privaten ins Politische und rechnet mit MAGA-Amerikanern ab
Von Michael Sommer
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Die Zeitgeist-Frucht wimmelt vor Würmern: John Grant hat schlecht gegessen

Es gibt diese Zeile aus John Grants großartigem Song »GMF«, erschienen 2013 auf seinem Album »Pale Green Ghosts«, mit der er schon damals alles klargemacht hat: »So go ahead and love me / While it’s still a crime.« Lieb mich, solange das noch als Verbrechen gesehen wird – es ist John Grants ureigener Sarkasmus, mit dem es ihm gelingt, schwules Verlangen und dessen Tabuisierung und Kriminalisierung kurzzuschließen.

Auch auf seinem neuen Album »The Art Of The Lie« finden sich Zeilen, die mühelos den Sprung vom Privaten ins Politische schaffen: »All that school for nothing« heißt es im Opener, der mit den Versuchen, mittels Bibel und Therapien aus einem schwulen einen »ordentlichen« Jungen zu machen, abrechnet.

Überhaupt, das bigotte Amerika, es ist eines der Lieblingsthemen des in Buchanan (Michigan) geborenen Musikers, der mittlerweile in Island lebt. Der Albumtitel »The Art Of The Lie«, eine Zeile aus dem Song »Meek AF« (»Sanftmütig wie Hölle«) spielt auf »The Art of the Deal« an, ein Buch von Donald Trump, das unter »Make America Great Again«-Jüngern mittlerweile als weiteres Buch der Bibel gesehen wird, erzählt Grant im Pressetext zum Album. »Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen« (Matthäus 5,5). Grant beschreibt diese Menschen, die »nie das Neue Testament gelesen haben, weil zu wenig Bilder drin waren«, als so sanftmütig, dass sie die Verlierer (»the weak«) mit ihren Super-Hotrods einfach niedermähen werden. »Twistin’ scriptures« sei deren Lieblingsspiel, absichtliches Falschverstehen der Bibelverse. »Jesus wants you rich.« Ernsthaft?

Aber da ist auch dieser ganz private Schmerz, die Erkundung der eigenen Kindheit, die Grant Album für Album betreibt, und das ihn die schönsten, himmelschreiend nostalgischen Balladen schreiben lässt. »Father« ist so eine. Grant besingt einen Besuch im Elternhaus, Jahre später, die Zimmer sind leer. Er sieht »die Wände, die sein Vater gebaut hat« – und dann besingt er seine Scham, dass er nicht der Mann geworden ist, den sich sein Vater gewünscht hat.

Und unmittelbar danach wird es wieder politisch: In den bitteren Nachhall von »Father« hinein schiebt sich »Mother and Son«, eingeleitet von einer gesampelten Zeile: »He had put the Midway tattoo on his arm, cause he loved that ship.« Schiffe der Midway-Klasse waren Flugzeugträger der US-Marine, gebaut seit den 1940er Jahren, unter anderem im Einsatz im Vietnam- und zweiten Golfkrieg. Der Song bezieht sich offensichtlich auf den Fall Allen R. Schindler, einen Funkoffizier an Bord der »Belleau Wood«, der 1992 von einem anderen Matrosen zu Tode geschlagen wurde, während ein weiterer Schmiere stand – nur aus Hass auf sein Schwulsein. Schindlers Körper war so böse zugerichtet, dass seine Mutter ihn später nur aufgrund seiner Tattoos identifizieren konnte. »Did you know it inside of your heart when he died / Mother«, fragt Grant. Und die irische Sängerin Rachel Sermanni singt im Refrain: »He doesn’t know hate now.« Es bleibt ein schwacher Trost, aber Stimme und Song sind so gut.

Produziert hat die Platte Ivor Guest, der u. a. mit Grace Jones »Hurri­cane« (2008) gemacht hat. »This is technology mixed with the band«, singt Jones passenderweise im ersten Song ihres Albums »This is«. Trifft auf »The Art Of The Lie« auch zu. Dave Okumu an Gitarre, Robin Mullarkey am Fretless Bass und Seb Rochford sporadisch an den Drums ergänzen den technologiebasierten Sound. Im Promovideo zur Veröffentlichung hält Grant dennoch demonstrativ Grace Jones’ Album »Island Life« in die Höhe. Und noch eine andere Platte ist ihm offenbar sehr wichtig: der »Blade Runner«-Soundtrack von Vangelis von 1982. Als raunte Rutger Hauers berühmter »Tränen im Regen«-Monolog durch das Album: »Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet …«

Man fragt sich bei den Platten von John Grant ja eh immer wieder, was er eigentlich vorhatte: ein grooviges Elektroalbum machen oder introspektiv schwebende Balladen schreiben. Es sind diese beiden Pole, zwischen denen auch schon »Boy from Michigan« (2021) oder »Pale Green Ghosts« (2013) oszillierten.

»The Art Of The Lie« legt aber in sachen Groove noch mal zu. So greift gleich der Opener »All That School for Nothing« oder auch »Meek AF« auf Regionen zu, die sich möglicherweise seit Stevie Wonders »Sir Duke« nicht mehr bewegt haben. »It’s a Bitch« klingt so schwarz, dass man das Wort in diesem Fall tatsächlich einmal groß schreiben muss. An vielen Stellen feuern Arcade-Sounds durch die Songs und Grant singt von »hot heshers playing Robotron«. Rettet die letzte amerikanische Familie vor den fiesen Robotern!

Okay, es ist nicht alles gut auf »The Art Of The Lie«. Möglicherweise lässt sich der häufige Einsatz einer über den Gesang gelegten Vocoderstimme aber auch als eine Art Schutzmantel interpretieren, der allein es Grant ermöglicht, sich in die offenbar schmerzhafte Zeit des Heranwachsens zurückzubegeben, doch ein Stilmittel kann bei zu häufigem Einsatz eben auch nerven. Die witzig-sarkastischen Texte retten da vieles. Und nebenbei bringt uns Grant ein paar medizinische Fachbegriffe bei: Encephalon – Gehirn, Medulla oblongata – verlängertes Rückenmark. Wann hat man je solche Wörter in einem Popsong gehört?

»This zeitgeist fruit is full of worms«, beklagt Grant im letzten Song »Zeitgeist«. Etwas läuft schief – und das nicht nur in den US of A.

John Grant: »The Art Of The Lie« (PIAS/Bella Union/Rough Trade)

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