75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 5. September 2024, Nr. 207
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

In Worten träumen

Wieso nicht die Bibel schreiben? Der Schriftsteller Oswald Egger erhält für seine experimentelle Poesie den Büchnerpreis
Von Enno Stahl
10.jpg
»Und dann ist da ja auch außen etwas da, wenn sich etwas regt im Bewusstsein« – Oswald Egger, beinahe Descartes

Oswald Egger ist ein Solitär in der deutschsprachigen Literaturlandschaft – rigoros und konsequent in seiner Spracharbeit, ohne jeden Seitenblick auf das, was der Betrieb verlangt. Dieses energische Einzelgängertum ist durchaus ein Alleinstellungsmerkmal in der erweiterten literarischen Szene. Deshalb kommt die am Freitag veröffentlichte Entscheidung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, Egger den diesjährigen Georg-Büchner-Preis zu verleihen, nicht unbedingt überraschend. Sie fügt sich in eine lange Reihe von Preisen und Auszeichnungen. Dabei hatte der 1963 in Südtirol geborene Egger, der die italienische, die österreichische und die deutsche Staatszugehörigkeit besitzt, zunächst nur als Veranstalter der Kulturtage in Lana auf sich aufmerksam gemacht, einer beschaulichen italienischen Marktgemeinde. Erst mit 30 Jahren begann er selbst zu publizieren, zunächst in kleineren Editionen, bis 1999 ein erster Band bei Suhrkamp erschien. Dort veröffentlicht er noch heute.

Als Nachfolger von Thomas Kling zog Egger auf das Museumsgelände Raketenstation Hombroich, wo er bis vor einigen Jahren lebte, heute unterhält er dort noch ein Atelier und verantwortet das Literaturprogramm. 2011 nahm er eine neu geschaffene Professur für »Sprache und Gestalt« an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel an.

Es ist gar nicht so einfach, sein Werk einer Gattung zuzuordnen. Meist heißt es, er veröffentliche vor allem Lyrik. Das war eher in den Anfängen der Fall. Denn inzwischen bestehen Eggers Bücher aus großangelegten epischen Entwürfen, die allerdings poetisch so verdichtet sind, dass man sie kaum als Prosa verstehen kann. Es wird nicht wirklich etwas erzählt, statt dessen »geschieht« hier Sprache, sie ist das Ereignis und das Sujet.

Alle Bücher Eggers sind ungemein formstreng gearbeitet. Sie orientieren sich jedoch nicht an gängigen Formen, sondern sie erschaffen jeweils ihr eigenes Organon. Eines seiner wichtigsten Werke »Die ganze Zeit« von 2010 ist ein wahres Gesamtkunstwerk, fast 750 Quartseiten lang, eine Bibel der experimentellen Poesie. Für jedes Großkapitel gibt es neben einer ganzseitigen Grafik eine kurze, fast prosaische Einleitung, die ein wenig die innere Thematik vorzugeben scheint. Es folgen fragmenthafte Passagen, die den eigentlichen Charakter des Buches ausmachen: Sprache, Natur und Sprachnatur durchdringen sich gegenseitig, die Worte werden aufgebrochen, entkernt, teilweise bewusst falsch oder missverständlich behandelt. Das liest sich dann etwa so: »Eine fast Gans-groß hornfüßige Silbermöve in oscillae, ein Wälzrädertier in Inseln vorüberstreichender Strömung – wie Schlitzinsekten sind-ist die Facetten (die veraschten) in Zufluren flugfähiger Trugsamen.« Assonanz, Sprachklang und Rhythmus kommen zentrale Bedeutung zu. Neben den Haupttexten stehen fett gedruckte Vierzeiler als synchrone Leseleiste am Rande – eherne Sentenzen, die zwischen bäuerlichen Trivialitäten, Rätselworten und Dada-artigen Unsinnspoemen changieren. Dazwischen finden sich Embleme, Skripturen, biomorph bis abstrakt, keine gleicht der anderen. Selbstverständlich ist auch dies eine ideogrammatische Schiene, ohne zuweisbare Bedeutung, doch mit klarem Eigengewicht. Jedes dieser Kapitel endet mit einer ganzen Seite voller Vierzeiler, die somit das Prinzip paralleler Lesbarkeit noch mehr als in den vorherigen Passagen durchexerziert. Das Buch ist dabei auch grafisch exquisit gestaltet, nicht umsonst wurde es mit dem Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet.

Solche strikten Strukturmuster legt Egger allen seinen Werken zugrunde. Der schmalere Band »Gnomen & Amben« von 2015, ausnahmsweise nicht bei Suhrkamp, sondern in Ulf Stolterfohts Brueterich Press erschienen, besteht aus durchnumerierten Epigrammen, die durch Zahlencodes wiederum in komplexe Beziehungen zueinander gebracht werden. In »Val di Non« von 2017 stehen am Fuß der Seite immer genau 13zeilige Fließtexte, darüber Federzeichnungen, die wie fiktive biologische Zellschnitte aussehen.

In Eggers letztem größeren Buch »Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt« (2021) kommt seinem zeichnerischen Wirken eine noch größere Bedeutung zu. Seitenlange Bildstrecken mit farbigen Verlaufsformen improvisieren über das Thema Fluss. Immer basiert Eggers Wortschaffen auf Natur und Landschaft, stellt es sich in Beziehung zu ursprünglich Gegebenem, zur Materie selbst. Geröll, Erde, Wurzelwerk, Pflanzen, Wetter, bis in filigranste Filiationen sprachlich abgebildet. Seine poetisch aufgeladene Kunstprosa ist ein Strömen aus sich selbst heraus: Eins aus dem anderen scheinen sich die Worte zu bilden, wirklich wie ein Fluss, fast automatisch, ein Träumen in Worten – das erzeugt einen Sog, allein durch das Material, nicht über Sinn und Bedeutung.

Die Entscheidung, einem kompromisslos experimentierenden Autor wie Oswald Egger den Büchnerpreis zu verleihen, ist so ungewöhnlich wie vielsagend: Es ist eine Entscheidung gegen das Marktdiktat, dem Literatur und Buchhandel immer stärker unterworfen sind.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton