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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 6 / Ausland
Tunesien

Saïed bleibt dabei

Wahlperiode in Tunesien eröffnet. Neben Dutzenden Anwärtern kandidiert auch der zunehmend autoritär agierende Präsident erneut
Von Werner Ruf
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Einig in der »Ablehnung von Migration«: EU-Prominenz mit Kaïs Saïed (Tunis, 16.7.2023)

Am 6. Oktober sollen in Tunesien Präsidentschaftswahlen stattfinden. Nach Bekanntgabe des Termins Anfang des Monats begann in der vergangenen Woche offiziell die Wahlperiode. Nun müssen die Bewerber ihre Kandidatur einreichen. Die Antragsformulare seien bereits 61mal ausgegeben worden, schrieb Jeune Afrique am Mittwoch. Eine Hürde ist: Die Anwärter müssen in dritter Generation von tunesischen Vorfahren abstammen und muslimischen Glaubens sein.

Ethnische Herkunft oder Religion sind jedoch weniger das Problem als das politische System, das der derzeitige Amtsinhaber Kaïs Saïed aufgebaut hat, der am Freitag ebenfalls seine Kandidatur erklärte. Er wolle den »Kampf um die nationale Befreiung« fortsetzen, hieß es in einem vom Präsidialamt verbreiteten Video. Saïed lehrte Verfassungsrecht an den Universitäten Sousse und Tunis und ist Anhänger von Formen direkter Demokratie. Er ist tunesischer Nationalist, erzkonservativ und frommer Muslim, der den politischen Islam konsequent ablehnt. 2019 bewarb er sich um das Präsidentenamt, ohne Unterstützung einer Partei und ohne die vorgesehene staatliche Hilfe für seine Wahlkampagne in Anspruch zu nehmen. Sein Thema war der Kampf gegen die Korruption. Die Stichwahl gewann er mit knapp 73 Prozent der Stimmen.

Am 25. Juli 2021 weigerte er sich unter Hinweis auf Korruptionsvorwürfe gegen einige neu vorgesehene Minister, eine neue Regierung zu ernennen, und löste das Parlament auf. Seither regiert er immer autoritärer. Er verfolgte zunächst vor allem die Islamisten der Partei Ennahda, dann aber auch – politisch ziemlich wahllos – die Führer anderer politischer Parteien, Rechtsanwälte, Journalisten etc., denen er Verschwörung gegen die Staatssicherheit oder die Person des Staatschefs, Verbreitung falscher Nachrichten, Korruption oder Geldwäsche vorwirft. Saïed hat – wohl weitgehend selbst – eine neue Verfassung erarbeitet, die alle wesentlichen Befugnisse in die Hand des Staatschefs legt. An einer Volksabstimmung über diese neue Verfassung beteiligten sich 2022 ganze 8,8 Prozent des Wahlvolks, ein Ergebnis, das binnen 48 Stunden auf 11,2 Prozent nach oben korrigiert wurde. Im neuen Parlament gibt es keine Parteien oder Fraktionen mehr, sondern nur noch Individuen. Saïed setzt auch nach Gutdünken Richter ab oder ein.

Das Land ist unterdessen ökonomisch kaum mehr lebensfähig: Etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung wird im informellen Sektor erbracht, wo es weder Sozialleistungen noch Steuern gibt. Die wirtschaftliche Infrastruktur ist marode, Perspektivlosigkeit macht sich breit, die Hälfte der Akademiker mit Abschluss ist erwerbslos. Der Staatsbankrott konnte bisher verhindert werden durch Mobilisierung der Zahlungsbereitschaft der Auslandstunesier und Finanzspritzen Algeriens. Saïed weigert sich, die vom IWF seit 2003 für neue Kredite verlangten Strukturanpassungsmaßnahmen mit einer Streichung der Subventionen für Brot und Energie und geringeren Lohnkosten im öffentlichen Dienst umzusetzen, mit der plausiblen Begründung, diese seien ein Eingriff in die tunesische Souveränität.

Tunesiens Souveränität sieht Saïed aber auch in Gefahr durch ungehinderte Migration, so etwa, wenn er das Verschwörungskonzept der »Umvolkung« übernimmt und in einer Rede 2023 behauptete, der »arabisch-muslimische Charakter« der tunesischen Gesellschaft werde durch eine organisierte subsaharische Einwanderung gefährdet. Diese Rede löste regelrechte Pogrome im ganzen Land aus, mehrere afrikanische Staaten richteten eine Luftbrücke ein, um ihre Staatsangehörigen zu evakuieren, nicht Geflüchtete, sondern vor allem Studierende.

Argumentation gegen und Bekämpfung von Migration werden zur Waffe schlechthin: 2023 handelten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Ministerpräsident Marc Rutte mit Kaïs Saïed ein Abkommen zur Bekämpfung der Migration aus, das Gelder für die tunesische Küstenwache und bescheidene Budgethilfen vorsah. Zugleich demonstrierte Tunesien seine Vorstellung von der Sicherung der europäischen Grenzen: Viele hundert Asylsuchende wurden an die Grenzen zu Libyen und Algerien in die Wüste verfrachtet und ohne Wasser und Verpflegung ausgesetzt, viele starben. Das »sichere Drittland« hat seine Prüfung bestanden.

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