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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 8 / Inland
Bezahlkarte für Asylsuchende

»Viele Menschen wollen diese Symbolpolitik nicht«

Bezahlkarte für Asylsuchende: Aktivisten tauschen aus Solidarität Bargeld gegen Gutscheine. Ein Gespräch mit Katharina Grote
Interview: Gitta Düperthal
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Statt Geflüchteten sollten Steuersünder wie der Fußballfunktionär Ulrich Hoeneß eine »Bezahlkarte« bekommen – meinen zumindest Teilnehmer einer Demo gegen Abschiebungen (Potsdam, 20.6.2024)

Sie bieten Geflüchteten einen Tausch von mit der neuen Bezahlkarte erworbenen Supermarktgutscheinen gegen Bargeld im gleichen Wert an. Bild titelte »Flüchtlinge zum Bezahlkartenbetrug angestiftet!«. Der Sinn der Karte sei somit dahin. Was erwidern Sie darauf?

Der gesellschaftliche Diskurs zu dem Thema wird nicht gehört. Bild unterstellt, die ganze Republik stehe hinter der Bezahlkarte für Geflüchtete. Das ist falsch. Viele Menschen wollen diese rechtspopulistische Symbolpolitik nicht. Sie meinen, dass vor Krieg oder politischer Verfolgung nach Deutschland geflüchtete Menschen selbstbestimmt über ihr Geld verfügen können müssen.

In den 1990er Jahren gab es bereits Gutscheine für Asylsuchende. Auch damals konterkarierten Aktivisten diese Art des Bezahlvorgangs an Supermarktkassen.

Weil ich zu jung war, habe ich das nicht miterlebt. Aber mir ist bekannt, dass es damals einen Umtausch von Gutscheinen gab; auch Essenspakete wurden Geflüchteten abgekauft. Die Politik der Ausgrenzung verläuft in der Geschichte in Wellen. Solidarität formiert sich dagegen. Weil Bayern als Vorreiter die Bezahlkarte für Geflüchtete bereits ab Anfang Juli umsetzt, läuft unsere Aktion in München an. Aus ländlichen Gebieten kommen einige mit dem Zug hierher, um mit der Karte erworbene Gutscheine in Bargeld umzutauschen.

Wie wird darauf reagiert?

Schon in den ersten zwei Wochen sprach sich unsere Aktion herum. Viele Menschen verstehen, wie diskriminierend eine Bezahlkarte für Geflüchtete ist. Damit können sie lediglich 50 Euro Bargeld im Monat abheben und an Orten und in Läden nicht einkaufen, in denen keine Kreditkartenzahlung möglich ist. Aktuell haben wir sogar mehr Angebote, Gutscheine abzunehmen, als Nachfrage von Geflüchteten! Der Tausch findet beim Netzwerk Solidarische Landwirtschaft, beim Open Haus im Kulturzentrum oder im Parteibüro von Die Linke zu den Öffnungszeiten statt. Auch in Städten wie Nürnberg, Augsburg und Regensburg wollen Aktivistinnen und Aktivisten Tauschstationen einrichten.

Die Beschränkung von Bargeld soll Überweisungen ins Ausland verhindern – etwa Geldzahlungen an Schleuser oder an Familien in den Herkunftsländern –, behauptete unter anderen die Bundesinnenministerin Nancy Faeser, SPD.

Dieses Argument basiert auf Falschinformationen. Es gibt keine Belege, dass Asylsuchende hohe Beträge ins Ausland überweisen würden. Mag sein, dass sich eine Frau, die Kinder im Ausland hat, Kleinstbeträge für deren Schulgeld oder etwas Essen vom Mund abspart. Wer so ein »indirektes Entwicklungsgeld« nicht in Ordnung findet, muss gänzlich den moralischen Kompass verloren haben.

Mit der Karte soll der Anreiz für die »irreguläre Migration« gesenkt werden.

Der Begriff »irreguläre Migration« führt in die Irre. Wer in Deutschland vor Krieg oder Verfolgung Asyl sucht, kann gar nicht anders ins Land kommen. Trotz der restriktiven Praxis beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhalten knapp 70 Prozent der Menschen, deren Asylgründe in der BRD inhaltlich geprüft werden, Schutz in Deutschland. Es ist absurd, anzunehmen, es kämen weniger Menschen, wenn sie hören, in Bayern gibt es die Bezahlkarte.

Wegen einer juristischen Auseinandersetzung um die Auftragsvergabe verzögert sich die bundesweite Einführung der Karte. Was schließen Sie daraus?

Das zeigt, dass mit der Karte nicht nur Geflüchtete gegängelt werden, sondern auch Unternehmen daran verdienen. Für Bayern konnte sich das Freisinger Unternehmen Paycenter durchsetzen. Unfug ist die Behauptung, die Karte wäre einfacher zu verwalten als die Zahlung von Bargeld. Die Ämter müssen jetzt prüfen: Darf der Beitrag für den Sportverein des Kindes überwiesen werden? Weil Onlineshopping nicht vorgesehen ist, wird es auch bei Ratenzahlungen für zum Beispiel ein gekauftes Handy schwierig. Das Überweisen der Leistung wäre die einfachste Methode. Geflüchtete sollten das ihnen zustehende Geld auf diese Weise erhalten.

Katharina Grote ist Sprecherin von »Offen bleiben für eine solidarische Gesellschaft«

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