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Aus: Ausgabe vom 23.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Die Leichentücher unserer Kriege

Gründungsmythos des »freien Westens«: Theodoros Terzopoulos inszeniert die »Orestie« des Aischylos
Von Sabine Fuchs
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Zum ewigen Frieden der Friedhöfe: Terzopoulos’ »Orestie«

Die »Orestie« ist die einzige erhaltene Trilogie der antiken Tragödie. Meist wird sie als Gründungsmythos der Demokratie gelesen: Schlachten im ersten Teil Klytämnestra und Aigisthos den aus dem trojanischen Krieg heimkehrenden Agamemnon ab, so wird dieser im zweiten Teil durch Orest gerächt, der die Mutter und ihren Liebhaber tötet. Für den Muttermord wird er allerdings von den Rachegöttinen, den Erinnyen gejagt. Athene schafft im dritten Teil schließlich Ordnung: Sie spricht Orest frei und verwandelt die Erinnyen in die Eumeniden, die auf dem Areopag Recht sprechen – die antike Demokratie ist geboren, Happy-End.

Der griechische Theaterregisseur Theodorus Terzopoulos hat – das hat er in Interviews vorab betont – seine mit Spannung erwartete Inszenierung vom letzten Teil her erarbeitet: Was eigentlich bedeutet diese Demokratie? Während der Proben habe er diese Frage mit seinen Schauspielern auch anhand der griechischen Zeitgeschichte diskutiert: das unheilvolle Abkommen von Varkiza, mit dem die mächtige linke Widerstandsbewegung von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs in ihre Selbstentmachtung manipuliert wurde; der Bürgerkrieg, in dem griechische Monarchisten und Nazikollaborateure gemeinsam mit Briten und US-Amerikanern die Linke vernichtend besiegten, sie hat sich von diesem Trauma bis heute nicht erholt. Demokratie, das bedeutet nicht nur in Griechenland: Truman-Doktrin, NATO und ein immer wieder vergeblicher Widerstand gegen die politischen Eliten.

Dieser Ansatz führt automatisch zu einer politischen Interpretation: Athene manipuliert die Erinnyen zur Aufgabe ihrer Macht, das Ergebnis dient den neuen Eliten (Orest), die sich nicht wesentlich von den alten (Agamemnon) unterscheiden. Die künstlerische Umsetzung dieses Gedankens folgt konsequent Brecht. Wie immer bei Terzopoulos sind die tragenden Pfeiler eine antinaturalistische, abstrakt-geometrische Bühnengestaltung sowie eine distanzierende, auf bürgerlich-psychologische Einfühlung verzichtende schauspielerische Leistung. Sophia Hill ist eine großartige Klytämnestra, die mit ihrer sarkastisch überspitzten Interpretation auch so manchen Lacher des Publikums auf ihrer Seite hat. Evelyn Assouad steht als Kassandra für alle Kriegsopfer, nicht nur die weiblichen. Den Gang in den eigenen Tod, den sie vorhersieht, begleitet die junge hochbegabte Schauspielerin, Tochter eines syrischen Vaters und einer griechischen Mutter, mit einem arabischen Trauergesang, den sie von ihrer Großmutter gelernt hat – seine Kassandra komme direkt aus Gaza, hat Terzopoulos im Vorfeld gesagt.

Das Ensemble setzt sich aus langjährigen Mitarbeitern von Terzopoulos zusammen: Tassos Dimas als Wächter, Aglaia Pappa als Athene, David Maltese als Aigisthos sowie Savvas Stroumpos, der nicht nur den Agamemnon als gewaltlüsternen Warlord darstellt (und eben nicht identifikatorisch »spielt«), sondern auch als Regieassistent das Training des Chors übernommen hat. Diesen bilden viele jüngere Darsteller aus dem Umfeld von Terzopoulos’ Attis-Theaters: Rosy Monaki, Ellie Iggliz, Babis Alefantis und die körperlich unglaublich präzise und präsente Anna Marka Bonissel. Die letzte Szene des Abends gehört aber Giulio Germano Cervi. Nachdem die Einführung der Demokratie in eine Kakophonie aus Nachrichtenmeldungen und Maschinengewehrsalven mündet, versucht er verzweifelt und halb wahnsinnig, die Leichentücher unserer Kriege vom Bühnenboden aufzusammeln – das Schlussbild der Inszenierung, eine düstere Diagnose unserer Gegenwart.

Die Premiere der Inszenierung am 12. Juli im antiken Theater von Epidauros wurde mit großem Jubel aufgenommen, schon vorab war vom »wichtigsten Theaterereignis der letzten Jahre« die Rede. Viele Zuschauer hatten Tränen in den Augen, als der Regisseur zum Schlussapplaus die Bühne betrat – Terzopoulos hatte schon vor einiger Zeit bekanntgegeben, dass dies seine letzte große Arbeit sein werde. Angesichts der Hellsichtigkeit der politischen Aussage, der ontologischen Tiefe, des bedingungslosen humanistischen Anspruchs und der ästhetischen Eleganz dieser Inszenierung kann man nur hoffen, dass er es sich das noch einmal überlegt.

Nächste Aufführungen: 26. Juli, Antikes Theater von Dodoni; 2. August und 3. August Antikes Amphitheater von Kourion, Limassol

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