»War Criminal«
Von Knut MellenthinBenjamin Netanjahu hatte am Mittwoch seinen Auftritt in einer gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des US-Kongresses. Es war das vierte Mal, dass er dort sprach: ein Rekord, mit dem der israelische Premierminister endlich auch an Winston Churchill vorbeizog, dem engsten Verbündeten der USA während des Zweiten Weltkriegs, dem die außerordentliche Ehre dreimal zuteil geworden war. Die Republikaner hatten schon seit Mitte März darauf gedrängt, Netanjahu erneut einzuladen, um ihm eine Plattform für seine taktischen Meinungsverschiedenheiten mit Präsident Joseph Biden zu bieten. Die Demokraten sträubten sich zunächst, gaben aber schließlich nach. Am 31. Mai wurde die gemeinsame Einladung veröffentlicht.
Netanjahus Rede am Mittwoch nachmittag (Ortszeit) dauerte 52 Minuten, war routiniert inszeniert und, gemessen an der Zielsetzung des Premierministers und der israelischen Rechten, geschickt formuliert. Zu Beginn gab er in wenigen Sätzen das Leitmotiv vor: »Irans Achse des Terrors« greife »Amerika, Israel und unsere arabischen Freunde« an. Das sei kein »Clash of Civilizations« – von dem Samuel P. Huntington 1996 gesprochen hatte –, sondern ein Krieg »zwischen Barbarei und Zivilisation«, »zwischen denen, die den Tod verherrlichen, und denen, denen das Leben heilig ist«. Nach dieser kurzen Einleitung stellte Netanjahu einige Statisten vor, die er mitgebracht hatte: drei »Helden« aus den israelischen Streitkräften und mehrere Familienangehörige von Geiseln, die im Gazastreifen gefangengehalten werden. Gleichzeitig saßen andere Familienangehörige protestierend auf der Zuschauergalerie in leuchtend gelben T-Shirts mit der Aufforderung »Seal the Deal« (Besiegel den Deal) an Netanjahu.
Zentraler Punkt der folgenden Rede war die Aufforderung an die USA und an die Welt, sich Israel im Kampf gegen den Iran anzuschließen, ohne konkret über die Formen dieses Kampfes zu sprechen. In Umkehrung der Tatsachen behauptete der Premierminister, Israel beschütze die USA, indem es deren »radikalsten und mörderischsten Feind« bekämpfe.
Im Vorfeld von Netanjahus Auftritt war spekuliert worden, wie viele Abgeordnete und Senatoren der Demokraten der Sitzung demonstrativ fernbleiben würden. Der letzte vorangegangene Auftritt Netanjahus 2015 war von 58 Demokraten boykottiert worden. Am Mittwoch waren es 68 demokratische Kongressmitglieder, die »unentschuldigt« fehlten. Unter ihnen waren die Senatoren Nancy Pelosi und Bernard Sanders. Die Abgeordnete Rashida Tlaib, Tochter palästinensischer Einwanderer, nahm mit einem kleinen Protestplakat, auf dem »War Criminal« (Kriegsverbrecher) und »Guilty of Genocide« (Schuldig des Völkermords) stand, an der Sitzung teil.
Vizepräsidentin Kamala Harris, die nach dem Rückzug Bidens vor ein paar Tagen voraussichtlich auch Präsidentschaftskandidatin der Demokraten wird, blieb Netanjahus Rede unter Hinweis auf früher vereinbarte Verpflichtungen fern. Der Führer der Republikaner im Abgeordnetenhaus, Michael Johnson, bezeichnete ihre Abwesenheit als »empörend und unentschuldbar«. Nach ungeschriebenen Regeln des Kongresses hätte Harris als Vizepräsidentin neben Johnson hinter dem Redner sitzen müssen.
In Israel, wo das Ansehen des Premierministers auf einem Tiefpunkt ist und zwei Drittel der Bevölkerung ihn möglichst schnell loswerden möchten, gab es viel Kritik an Netanjahus Auftritt. Sogar die weit rechts stehende Tageszeitung Jerusalem Post gab einem Kommentator das Wort, der auf die Defizite der Rede hinwies: keine Andeutung irgendwelcher Zugeständnisse an die Palästinenser, kein Wort über eine langfristige Lösung des Konflikts. Lob kam aber vom extrem rechten Finanzminister Bezalel Smotrich, der auf der Plattform X schrieb: »Das jüdische und israelische Herz in uns allen ist bewegt und von Stolz über die hohe Wertschätzung des Premierministers erfüllt, der uns mit scharfen, klaren Worten vorbildlich und glaubwürdig vertreten hat, und über seinen warmherzigen Empfang, der die tiefe und wunderbare Partnerschaft zwischen Israel und den USA widerspiegelt.«
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