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Aus: Ausgabe vom 29.07.2024, Seite 5 / Inland
Arbeitsbedingungen in Kitas

Pädagogische Abstriche

Um Personalnot in Kindertagesstätten in den Griff zu bekommen, setzen immer mehr Bundesländer auf Quereinsteiger mit Minimalqualifikation
Von Gudrun Giese
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Auf dem Weg zur Verwahranstalt (Kitagruppe in Bayern)

Der Fachkräftemangel in den Kindertagesstätten wird immer dramatischer. Landauf, landab suchen die Einrichtungen nach Betreuungskräften, Fachkenntnisse sind oft zweitrangig. Es gebe einen Trend zu niedrigeren Anforderungen, stellte Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung fest. Wie dpa am Freitag berichtete, kann in Hessen bis zu einem Viertel des Kitapersonals aus Menschen bestehen, die einen 160stündigen Weiterbildungskurs besucht haben.

Angesichts der komplexen, vier Jahre dauernden Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft dürfte das Wissen über die Betreuungsanforderungen bei Ein- bis Fünfjährigen dann nicht sehr hoch sein. Auch in Bayern sind nach Steins Angaben die Hürden für eine Kitamitarbeit gesenkt worden; dort gebe es nun »Schnellqualifizierungen«. Die Bertelsmann-Frau nannte diese Schritte wegen der anhaltenden Personalnot »alternativlos«. Gleichwohl dürfe das kein Dauerstandard werden.

Vor wenigen Tagen war der Entwurf einer Novelle des sogenannten Kitaqualitätsgesetzes von Bundesfamilienministerin Elisabeth Paus (Bündnis 90/Die Grünen) bekanntgeworden, das ab 2025 vor allem darauf setzt, mit zwei Milliarden Euro jährlich vor allem Fachpersonal in den Kitas zu halten beziehungsweise zusätzliches zu gewinnen. Bisher konnten bis zu 49 Prozent des Geldes verwendet werden, um die Kitabeiträge zu senken oder abzuschaffen, was sechs der 16 Bundesländer in Anspruch nehmen. Sollte die Gesetzesnovelle wie von Paus gewünscht durchs Kabinett gehen, ist noch nicht beantwortet, woher die dringend benötigten Erzieherinnen und Erzieher kommen sollen. Verschiedene Berechnungen gehen von bis zu 125.000 fehlenden Fachkräften bis 2030 aus.

Bisher behelfen sich die Bundesländer mit unterschiedlichen Ideen bei der Personalrekrutierung: In Baden-Württemberg können Berufsgruppen wie Logopäden, Krankengymnasten oder Hebammen direkt in einer Kita anfangen und berufsbegleitend einen Weiterbildungskurs besuchen. In Nordrhein-Westfalen arbeiten die Einrichtungen mit Assistenten, und in Mecklenburg-Vorpommern wurden vor einigen Jahren die Anforderungen für die Erzieherausbildung gesenkt. Sie dauert nur noch maximal drei Jahre.

Diese Entwicklungen bewerten Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung und Tina Friedrich von der Katholischen Stiftungshochschule München sehr kritisch, weil das pädagogische Niveau in den Kitas so kontinuierlich sinke. Immer mehr Kinder würden bereits heute in Gruppen mit einem schlechten Personalschlüssel betreut, so Stein laut dpa. Doch gerade die ersten Lebensjahre seien elementar für die Entwicklung. Erfahrungen, die in dieser Zeit gemacht würden, prägten das gesamte Leben.

Eine Arbeitszeitbefragung der Gewerkschaft Verdi, an der sich bundesweit 12.614 Erzieherinnen und Erzieher beteiligt haben, belegt das Dilemma: Die Befragung habe einen »Teufelskreis aus Überlastung, Erkrankung, Fluktuation und einer immer dünner werdenden Personaldecke in den Kitas« ergeben, teilte Verdi am 28. Juni mit. Kinder, Eltern und Beschäftigte sind demnach gleichermaßen überfordert.

Immer häufiger müssten Kitas zudem wegen des Personalmangels schließen oder ihre Öffnungszeiten begrenzen. Die Fachkräfte seien unzufrieden, weil sie »ihrem Auftrag der Erziehung, Bildung und Betreuung häufig nicht mehr nachkommen« könnten und das Gefühl hätten, die Kinder nur zu »verwahren«. Die Befragung unter den Erziehern zeigte deutlich, dass die Fachkräftelücke von Jahr zu Jahr wächst. Derzeit seien mehr als 20.000 Stellen unbesetzt, was statistisch gesehen den größten Fachkräftemangel aller Berufsgruppen in der Bundesrepublik ausmache.

Die Kitakrise werde sich »noch mehr verstärken, wenn die Arbeitsbedingungen nicht unverzüglich verbessert werden«, sagte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle. Dringend müssten die Fachkräfte in ihrer täglichen Arbeit entlastet, der Personalschlüssel verbessert und der Abbau von Qualitätsstandards gestoppt werden. Dafür fordert Verdi einen bundesweiten Kitagipfel und die stärkere Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Einrichtungen.

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