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Aus: Ausgabe vom 05.08.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte des Hungerstreiks

Souverän hungern

Der Körper als Protest- und Kommunikationsmittel: Ein Buch über die transnationale Geschichte des Hungerstreiks
Von Dieter Reinisch
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Unruhen in Belfast nach dem Tod von Bobby Sands (6.5.1981)

Mager sah Ecevit Piroğlu aus, als ich ihn in einem Café in Belgrad Anfang Juli traf, in das ihn sein Anwalt nach seiner Freilassung gebracht hatte. In Haft hatte Piroğlu rund 30 Kilogramm abgenommen. Zweimal 136 Tage verweigerte der linke Aktivist aus der Türkei in den vergangenen drei Jahren die Nahrungsaufnahme, um gegen seine Inhaftierung in Serbien zu protestieren – 272 Tage. 1981 war Bobby Sands, Mitglied der Irish Republican Army (IRA), nach 66 Tagen im Hungerstreik im nordirischen Hochsicherheitsgefängnis Maze gestorben. Sands war während seines Hungerstreiks zum Abgeordneten im britischen Unterhaus gewählt worden. Doch weder das noch die Massenbewegung zur Unterstützung der irisch-republikanischen Gefangenen konnten sein Leben retten.

Das Leben von Laurence McKeown retteten 1981 dagegen seine Eltern. Nach 70 Tagen verlangten sie, ihren Sohn künstlich ernähren zu lassen. Das IRA-Mitglied war da bereits in ein Koma gefallen. Die Gefangenen hatten in ihrem Hungerstreik gänzlich die Aufnahme von Nahrung in jeglicher Form verweigert – lediglich Wasser tranken sie, doch etwa ab dem 30. Tag ist der Körper nicht mehr in der Lage, dieses aufzunehmen.

Türkische und kurdische Revolutionäre wie Piroğlu nehmen dagegen Vitamine, Tee und Zucker zu sich. Die gänzliche Verweigerung, wie sie von den IRA-Gefangenen praktiziert wurde, wird von ihnen »Todesfasten« genannt.

In der Literatur und Forschung wird zumeist eine Linie von den IRA-Hungerstreikenden während des Nordirlandkonflikts zu den Revolutionären des Unabhängigkeitskriegs der 1920er Jahre gezogen. Auch die britischen Suffragetten verwendeten den Hungerstreik als politisches Mittel, um gegen ihre Inhaftierung zu protestieren. Viele der irischen Suffragetten waren zugleich aktive Republikanerinnen der Unabhängigkeitsbewegung und brachten so den Hungerstreik nach Irland. Die britischen Suffragetten wiederum waren in der Anwendung des Hungerstreiks als Kampf- und Kommunikationsmittel von den russischen Anarchisten im späten 19. Jahrhundert beeinflusst worden.

Eine umfassende Studie zur Frühgeschichte des Hungerstreiks, die der Historiker Maximilian Buschmann vorgelegt hat, leistet einen wichtigen Beitrag, diese lineare Sicht auf die Entwicklung der Hungerstreiks in der Moderne zu erweitern. Er setzt seinen Fokus auf die Entwicklung in den USA und beginnt mit den 1880er Jahren, als Hungerstreiks als Protest- und Kommunikationsmittel von politischen Bewegungen aufgegriffen wurden. Doch sein Interesse gilt nicht, wie bei den meisten anderen Darstellungen zum Thema, dem Hungerstreik als Kampfform einer politischen Bewegung, um außerhalb der Gefängnisse eine Massenbewegung aufzubauen, sondern der Rolle des Individuums in Haft, das den Hungerstreik durchführt.

Buschmann sieht den Hungerstreik als »eine körperliche Praxis, um die politische und individuelle Souveränität eines handelnden Subjekts zu demonstrieren«. IRA-Kämpfer verwendeten die Hungerstreiks, um in einer totalen Isolation weiterhin als politische Kämpfer gegen den britischen Staat anerkannt zu werden. In Haft war ihre einzige Waffe ihr Körper. Diese politische Subjektivierung untersucht Buschmann bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – ein ähnlicher Zugang wie der, den der Rezensent in »Learning Behind Bars« über das Leben von IRA-Gefangenen während des Nordirlandkonflikts gewählt hat.

Als Quellen zieht Buschmann vor allem zeitgenössische Dokumente heran: Archive, medizinische, juristische und sozialwissenschaftliche Literatur der damaligen Zeit, Debatten im Kongress, Presseberichte und eine Reihe von Egodokumenten von Hungerstreikenden, wie Tagebücher, Korrespondenzen und Memoiren. Seinen Ausgangspunkt bilden die Berichte des US-Ethnologen George Kennan über seine Beobachtungen in Sibirien um 1885. Er diskutiert in diesem Zusammenhang das Aufkommen des Begriffs »Hungerstreik«. Danach geht er auf die Entstehung der Hungerstreiks als moderne Protestform ein, widmet sich ihrer Etablierung durch Anarchisten und Suffragetten im 20. Jahrhundert und den Hungerstreiks von Kriegsdienstverweigerern. Den Abschluss bilden die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als Hungerstreiks zu einer Protestform gegen rassistische Segregation in den USA wurden. Mit den 1950er Jahren hätten sich Hungerstreiks als fester Bestandteil des Repertoires sozialer Bewegungen etabliert, meint er.

Die Stärke der Studie von Buschmann liegt darin, dass er an die vorliegende Literatur anknüpft und sinnvoll Lücken im aktuellen Forschungsstand schließt, indem er den Blick weg vom britischen Kolonialreich, Irland und Russland auf die USA legt. Das vorliegende Buch, das auf der an der Münchner Universität eingereichten Dissertation des Autors basiert, ist eine dichte Darstellung, die auf einem umfangreichen Quellenmaterial fußt. Dennoch ist es gut lesbar und bietet eine wichtige Grundlage für alle an politischer Gefangenschaft und den Protestformen politischer Gefangener Interessierten.

Maximilian Buschmann: Die Erfindung des Hungerstreiks. Eine transnationale Geschichte, 1880–1950. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, 378 Seiten, 65 Euro

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