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Aus: Ausgabe vom 13.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Der Fesselkünstler

Zum 125. Geburtstag des Master of Suspense: Sir Alfred Joseph Hitchcock
Von Felix Bartels
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Gefesselter Fesselkünstler (»Alfred Hitchcock Presents«, CBS 1962)

Eine berühmte Aufnahme zeigt ihn vor einer Guillotine. Vor­ausgestellt der Schriftzug »Alfred Hitchcock exercising«, er benutzt sie als Fitnessgerät. Nicht nur sein schräger Humor ist hier zur Geste verdichtet, auch der Ernst seiner Profession. Schneiden nämlich konnte er. Kamera auch.

Das Interesse für die klassischen Elemente des Films – Drehbuch, Szenenbild, Kamera, Schnitt, Ton, Musik, Schauspiel, Kostüm, Maske – scheint nicht gleich verteilt gewesen. Für Hitchcock war Kino eine visuelle Angelegenheit. Ein Film, sagte er 1962 im Gespräch mit François Truffaut, verliere synchronisiert vielleicht fünfzehn Prozent seiner Wirkung, es sei das Bild, das alles zusammenhalte. Das Erscheinen des Tonfilms, das ihn wie alle Kollegen zur Umorientierung zwang, hat er wie viele Kollegen als Verwässerung des Genres empfunden, auch wenn er die darin ruhende ­Chance weidlich zu nutzen wusste. Man kann eigentlich nicht sagen, dass die Stummfilme der Anfangsjahre den reinen Hitchcock repräsentieren, auch da schon hat er zuweilen lieblos Auftragszeug hingerotzt. Das Handwerk eines Regisseurs liegt darin, Fabelstruktur in Raumstrukur zu übersetzen. Es hat vielseitigere Regisseure als Hitchcock gegeben, doch was Inszenierung im engeren Sinn des Wortes betrifft, wurde er formgebend.

Das Ding, um das es geht

Erfreulich frei von Symbolik blieb seine Bildsprache. Gewiss finden sich hier und dort mal Botschaften, doch sie sind über Dialog und Handlung vermittelt. Das Primat des Bildes übersetzt sich bei Hitchcock in ein sekundäres Primat der Handlung. Was vertrackt klingt, jedoch die Kollektivität des Genres spiegelt. Jeder Regisseur muss für sich klären, welche der Künste welchen zuarbeiten. Zielt sein Film auf charakterliche Tiefe, griffige Handlung oder weltanschauliche Botschaft? Davon jeweils hängt ab, wie Schauspiel, Drehbuch, Bild und Ton zueinander gestellt werden. Hitchcocks Plotting hatte nie den Zweck, in die Tiefen der Seele zu dringen oder großangelegte Metapher zu sein. Er wollte eine Story erzählen, die den Zuschauer fesselt. Und zwar als Gelegenheit zum visuellen Ausdruck. Daher seine Ablehnung des Method Acting, ja im Grunde bevorzuge er mittelmäßige Schauspieler, wie er anlässlich der Konflikte mit Paul Newman bei den Dreharbeiten zu »Torn Curtain« (1966) gestand.

Das (sekundäre) Primat der Handlung widerspiegelt sich auch im berühmtesten Tool aus Hitchcocks Trickkiste, dem MacGuffin. Vielleicht übersetzt man den Ausdruck am besten mit »Das Ding, um das es geht«. Seine Wichtigkeit wird aber bloß behauptet, der MacGuffin hat keinen Inhalt. Wichtig für die Figuren, nicht für den Zuschauer, dient er allein dem Fortgang der Handlung. Der leuchtende Koffer in Tarantinos »Pulp Fiction« war eine unverhohlene Anspielung auf diese Technik, bei Hitchcock selbst sind es Gegenstände wie ein Mikrofilm, ein Feuerzeug oder der Inhalt einer Weinflasche. »The Lady ­Vanishes« (1938) kreist um eine ­simple Melodie, die ein Code sein soll. Die hübscheste Pointe zum MacGuffin lieferte nicht der Filmemacher selbst. In »Notorious« (1946) geht es um einen Behälter mit Uran, den Altnazis für irgendwas benötigen. Als der Film 1951 in die deutschen Kinos kam, hatte man mit Rücksicht auf die Befindlichkeiten in der Bundesrepublik aus den ­Nazis Drogenhändler und aus dem Uran Rauschgift gemacht. Wie der MacGuffin funktioniert, lässt sich daran sehen, dass das am Film eigentlich nichts ändert. Der Inhalt des Behälters war einfach nicht wichtig.

Was auf das Wesen des Trillers weist, jenes Genres, in dem Hitchcock vor allem hauste. Seine Abneigung gegen die »plausibles« (Wahrscheinlichkeitsfreunde) und »logicians« (Plothole-­Sucher) war buchstäblich episch. Zufälle und disparates Figurenverhalten stören eine Handlung nicht, weil Fehlerlosigkeit ohnehin nicht erreicht werden kann. Vielmehr geht es darum, wie zugkräftig und fesselnd das Geschehen ist. »Manche Filme sind ein Stück Leben, meine ein Stück Kuchen«, erläuterte Hitchcock sein Credo. Die Idee, dass Film vor allem zu fesseln habe, führte zum entschiedenen Suspense-Kino und in die seltsame Entweder-oder-Falle, nach der Suspense zugleich die Negation von Surprise bedeute. Tatsächlich hat Hitchcock selten mit Plottwists gearbeitet – in »Psycho« (1960) etwa oder in »Stage Fright« (1950). Das sei hervorgehoben, da »Surprise« im heutigen Thriller fast obligatorisch scheint.

Hitchcock folgt dem Theaterprinzip, wonach der Zuschauer praktisch immer mehr weiß als die Figuren. Sein Entweder-Oder indes hatte, wie falsch auch immer, etwas für sich: Eine Überraschung verpufft mit einem Wimpernschlag, Spannung lässt sich dehnen. Die Zeit des Films, bemerkte er irgendwo, ist anders als die in ihm behauptete. Kino staucht Minuten auf Sekunden und dehnt Sekunden auf Minuten, je nachdem, ob eine Szene ausgekostet werden soll oder überführenden Charakter besitzt.

Wie angedeutet, findet sich unter seinen 53 Regiearbeiten fürs Kino einiger Unschlitt. »Number Seventeen« (1931) soll vom vertraglich zur Regie gezwungenen Hitchcock vorsätzlich sabotiert worden sein. »Jamaica Inn« (1939) merkt man an, dass der Künstler mit dem Kopf bereits in Hollywood war. Im Spätwerk scheint die Luft raus zu sein, »Torn Curtain« hat immerhin eine geniale Szene (Bus jagt Bus), »­Topaz« (1969), »Frenzy« (1972), »Family Plot« (1976) rauschen am Rezipienten spurenlos vorbei. Die zweite Regiearbeit, der Stummfilm »The Mountain ­Eagle« (1926), gilt als verschollen, seine Spur führt nach Neuseeland oder auch nicht (der perfekte MacGuffin). Hitchcock war es nicht schade um die bloße Auftragsarbeit. Mit dem ein Jahr später produzierten dritten Film seiner Karriere, dem künstlerisch dichten »The Lodger« (1927), hatte der Regisseur sein Hauptthema gefunden: Flucht und Comeback eines zu Unrecht Beschuldigten. Die Häufigkeit des Motivs täuscht darüber hinweg, dass es sich bloß um eine Variation des eigentlichen Hauptthemas bei Hitchcock handelt.

Optimistischer Kafkaismus

Neben den Filmen, worin ein Mensch eines von ihm nicht begangenen Verbrechens beschuldigt (»The 39 Steps«, 1935, »Saboteur«, 1942, u. a.) bzw. als Unschuldiger verfolgt wird (»The Man Who Knew Too Much«, 1934, oder »North by Northwest«, 1959) – wobei die Unschuldigen gelegentlich auch schuldig sind (»The Paradine Case«, 1947, »Stage Fright«) –, gibt es auch die, in denen eine Person einen Verdacht hat und niemand ihr glaubt. Hierzu zählen, neben »Shadow of a Doubt« (1943), mit »Rear Window« (1954) und »The Lady Vanishes« zwei unzweifelhafte Höhepunkte seines Werks. Die gespenstische Idee des letzteren wurde oft kopiert: Die junge Iris sucht auf einer Zugfahrt nach der verschwundenen Miss Froy, an die sich keiner außer ihr erinnern will, offenbar steckt der ganze Zug unter einer Decke. Nebenbei markiert der Film die Geburtsstunde des britischen ­Double Acts Charters and Caldicott und präsentiert an seinem Ende eine boshaft-satirische Szene als Kommentar zu Chamberlains Appeasementpolitik, die im Produktionsjahr des Films blutfrisch aus der Taufe gehoben war. Es ist, allgemeiner, der Kampf des Einzelnen gegen einen scheinbar allmächtigen Konsens seiner Umgebung, ein ins Optimistische gewendeter Kafkaismus, der Hitchcocks Hauptthema ausmacht.

Auch wenn sich das Thema oft wiederholt und Hitchcock durchaus als Genrefilmer gelten muss: Formal ist sein Werk ungeheuer breit aufgestellt. Mit »North by Northwest« wurde, mehr oder weniger, der Actionfilm geboren, auch die Bond-Filme haben einen Teil ihrer Inspiration hierher. In der Maisfeldszene arbeitet der Regisseur mit der Weite des Raums, der gesamte Film wiederum mit einer Vielzahl an Schauplätzen. Auf der anderen Seite des Spektrums steht mit »Lifeboat« (1944) ein Kammerspiel auf dem Ozean, auch das hat später Schule gemacht. »Birds« (1963) ist ein Film so reich an Schnitten wie an Vögeln. »Rope« (1948) ist der erste One-Cut der Filmgeschichte. In »Psycho« zeigt sich ein interessantes Experiment: Was passiert, wenn man mitten in der Handlung die Hauptfigur killt? Der Mörder bleibt zurück auf der Szene, und während er seine Spuren verwischen muss, geht das Mitfiebern des Publikums mangels Alternativen direkt auf ihn über. Selbst das hat der Meister der Fesslung geschafft.

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