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Aus: Ausgabe vom 31.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Jazz

Der jüngste Tag ist verschoben

Sanft, aber nicht säuselnd: »Phoenix«, das siebte Studioalbum des Jazzpianisten Grégory Privat
Von Fabian Lehmann
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Immer entspannt: Grégory Privat

Wie er dasitzt. Entspannt im schweren Sessel. Aufmerksam und mit Glitzer im Gesicht. Das Cover bietet ein stimmiges Bild für die Musik des Grégory Privat. Sie ist zurückgenommen, voll leichter Abendstimmung, dabei nicht säuselnd, sondern zwischen Harmonie und aufwühlender Disharmonie changierend.

Das Piano ist auch auf dem siebten Album »Phoenix« das bestimmende Instrument des aus der Karibik stammenden Instrumentalisten und Sängers, und wie stets wirkt es so leicht dahergespielt. Zusammen mit der weichen Stimme des 40jährigen schlägt der Jazz manches Mal in schmachtenden Pop um, der so unschuldig daherkommt, als wäre er in den 90ern aufgenommen, als im Radio noch die neuesten Songs von Mariah Carey und Céline Dion dudelten. Hier hat einer keine Angst vor großen Melodien, angereichert mit dem Soul tropischer Nächte und elektronischen Klangfarben. So fällt auch der Synthesizer zuweilen aus der Zeit, scheint mit seinem Sound 40 Jahre zu spät dran zu sein. Privat setzt auf die Spannung zwischen zeitgenössischem Jazz, Retroklängen und der Ambivalenz zwischen Dissonanz und Harmonie.

Grégory Privat, der seine Karriere Anfang der 2000er Jahre in französischen Clubs begann, wurde 1984 auf der Karibikinsel Martinique geboren. Sein Vater ist der Pianist José Privat, der in den 90er Jahren der Band Malavoi angehörte. Die wiederum reicherte seit den frühen 70ern die Musik der französischen Antillen mit Salsa, brasilianischen Einflüssen und Jazz an und hatte damit jahrzehntelang Erfolg. Der reichte bis nach Europa und führte dazu, dass Malavoi 1992 gar in den Élysée-Palast eingeladen wurden, um für Frankreichs damaligen Präsidenten François Mitterrand aufzuspielen. Dem väterlichen Vorbild nacheifernd, begann auch Sohn Grégory, sich dem Jazz zu widmen, nachdem er zehn Jahre lang in Toulouse eine klassische Musikausbildung absolviert hatte.

Die vielstimmigen musikalischen Einflüsse finden sich auch in seinem Spiel. Seite drei des Doppelalbums beginnt mit dem akustischen »Metamorphosis«, in dem sich das wilde, an Afrobeat anklingende Schlagzeugspiel Tilo Bertholos nach und nach in ekstatische Höhen schraubt, ohne sich auch nur einen Moment in den Vordergrund zu drängen. Privat stimmt am E-Piano ein, zeigt, welche aufwühlenden Stimmungen so ein Abend mit Klavier auch hervorzubringen vermag. Zusammen mit Bassist Chris Jennings demonstriert das Trio hier seine mitreißende Qualität. Das darauffolgende »Chlordeconomy« hat etwas Bedrohliches, und wenn die Stimme Grégory Privats wie so oft ins Falsett umschlägt, hat es diesmal nichts Verspieltes mehr, sondern klingt verzweifelt anklagend. Auf dem Album bleiben solche Titel Ausreißer, bewahren es aber davor, in allzu harmonieverliebte Gefilde abzudriften.

Schlagzeuger Bertholo trat außerhalb des Trios bislang kaum in Erscheinung. Der 46jährige Kanadier Jennings hingegen treibt sich seit den 90ern im Jazz herum und gehört dem Trio von Jazzpianist Joachim Kühn an. Aufmerksamkeit über den frankophonen Raum hinaus erlangten Grégory Privat und sein Trio erstmalig im Jahr 2008 nach einer Auszeichnung beim Montreux Jazz Festival und noch mehr durch das Debutalbum »Ki Koté« von 2011. Frankreich hat er längst erobert, am 3. Dezember wird er auch in der Berliner Philharmonie spielen. Dort wird man seine teils kreolischen, teils französischen Texte kaum verstehen. Die Melancholie des Träumenden wird sich dennoch vermitteln.

Das Album »Phoenix« endet in latein­amerikanischen Rhythmen mit der »Apocalypse«. Der Weltuntergang muss dann aber doch noch warten. Denn den Engeln, die vom Himmel steigen, zeigt sich eine Welt, die es wert ist, bewahrt zu werden. »Der Tag des jüngsten Gerichts / Ist verschoben«, heißt es dort. Und warum sich nicht das bisschen Idylle gönnen und wenigstens für einen Abend in warmen Melodien versinken?

Grégory Privat: »Phoenix« (Buddham Jazz)

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