Wenn der Fährmann spricht
Von Gisela SonnenburgAm Ende gab es weiße Rosen für die Künstler und viel Begeisterung im Publikum. Prominenz wie die Chansonsängerin Gina Pietsch war am Dienstag zur Reihe »jW geht Jazz« gekommen, um »Das Floß der Verdammten« des Jazzmusikers Hannes Zerbe und des Schauspielers Rolf Becker zu erleben. Mit dem Abend wurde zugleich eine DVD vorgestellt, welche die Uraufführung dokumentiert. Die Maigalerie der jungen Welt in Berlin war gefüllt mit Menschen von weitem Horizont, die bereit waren, sich auf historische Details ebenso einzulassen wie auf die brennende Aktualität des Themas. Vor Beginn des Konzerts erläuterte Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer des Verlags 8. Mai, in dem die junge Welt erscheint und der auch die DVD veröffentlicht hat, was es auf sich hat mit dem Titel und dem Inhalt, der dahintersteht.
Im Dezember 1968 sollte das Oratorium »Das Floß der Medusa« des Komponisten Hans Werner Henze mit dem Libretto von Ernst Schnabel in Hamburg uraufgeführt werden. Doch der Starbariton Dietrich Fischer-Dieskau und Mitglieder des RIAS-Kammerchores verlangten, die rote Fahne, die Henze über der Bühne plaziert hatte, zu entfernen. Henze lehnte das ab – und so kam es, statt zur Uraufführung, zu Protesten vor der Ernst-Merck-Halle im Park Planten un Blomen. Die Polizei rundete das negative Ereignis ab. Sie nahm unter anderem Henze fest, weil er die Festnahme eines Konzertwilligen – der übrigens kürzlich Abonnent der jungen Welt wurde – als angeblichen Störer verhindern wollte. Henze wurde zur Zahlung von 2.400 D-Mark verurteilt, der Konzertwillige indes freigesprochen, weil er sein Eintrittsticket vorweisen konnte, westhalb auch Henze letztinstanzlich einen Freispruch bekam.
Rund 50 Jahre später wurde bei der Berliner Künstlerkonferenz der Zeitschrift M&R 2019 ein Auftragswerk uraufgeführt, welches auf Henzes »Floß« beruht: »Das Floß der Verdammten« der Jazzkoryphäe Hannes Zerbe entstand unter Mitwirkung von Rolf Becker, der den Text von Schnabel für die neue »Floß«-Version passend machte. Drei Chöre, eine Sopranistin, ein Bariton, ein Sinfonieorchester – das von Henze benötigte Personal ist groß. Zerbe und der Jazz kommen mit dem Klavier, dem Schlagzeug, dem Altsaxophon und der Klarinette aus.
Rolf Becker, spätestens seit »In aller Freundschaft« ein Fernsehstar, ist als Sprecher stark präsent. Was für eine Stimme! Sie kann erwecken und alarmieren, Hoffnung säen und vernichten. Becker kann so jede Stimmung, jedes Geschehnis illustrieren und kommentieren. Die Geschichte, die beschrieben wird, ist historisch verbürgt. Im Juni 1816 segelte die mit etwa 400 Menschen bestückte französische Fregatte »La Méduse« gen Afrika, um im Senegal eine verlorene Kolonie erneut in Besitz zu nehmen. Nach einem Unglück füllen sich die Beiboote. Sie sollen ein aus den Masten der »Medusa« gezimmertes Floß mit etwa 150 Menschen bis zur Küste ziehen. Doch aus der Gier, schneller voranzukommen, wird die Leine gekappt. Das Floß treibt führungslos auf dem Meer, fast alle darauf sterben.
Das Gemälde »Das Floß der Medusa« von Théodore Géricault zeigt den Mulatten Jean-Charles mit einer roten Fahne an der Spitze des Floßes. Rolf Becker erklärt aber zunächst seine eigene Rolle: Er verkörpert den Fährmann. Wie Charon in der antiken Mythologie vermittelt er zwischen den Lebenden und den Toten. Bei Henze sollten die Darsteller der Lebenden links stehen und, wenn sie sterben, auf die rechte Seite der Bühne gehen. Becker besticht mit Sprechkunst, Mimik und expressiver Körpersprache.
Zerbes Musik ist anfänglich leicht, fast vornehm, färbt sich dann aber dunkel, wird mysteriös. Nach zwölf Tagen auf See strandet die »Medusa« auf einem Riff. Drei Tage versucht die Mannschaft, sie wieder flottzumachen. Dann geht der Gouverneur als erster von Bord, lässt sich in ein Rettungsboot hieven. Jemand will ihn erschießen. Doch ein Füsilier fällt ihm in den Arm. Alle anderen sehen tatenlos zu.
In Henzes »Floß« verkörpert eine weibliche Gestalt den Tod: Madame La Mort. Edda Moser sang sie bei der geplanten Uraufführung. In Zerbes »Floß« wird Madame La Mort beschwört und zitiert. Als die Axt die Verbindung zum Floß kappt, ruft sie: »Kommt jetzt!« Doch die Menschen kämpfen.
Zerbes Komposition lässt das Piano mal scheinbar sanft, dann wieder schräg und düster erklingen. Christian Marien am Schlagzeug weiß nicht nur laut, sondern auch zart mit Rhythmus zu malen. Gebhard Ullmann am Altsaxophon und Jürgen Kupke mit der Klarinette quäken, streicheln, erschrecken dazu. Der Grundton ist eingängig, warmherzig, fast smart. Aber er wird immer wieder durchbrochen und vermischt mit aufschreckenden Quertönen und überraschenden Akkorden. Eine Atmosphäre des Unheimlichen und des Grauens.
»Zählt die Stunden mit der schwarzen Sonne«: Rolf Becker gibt die Gedanken und Gefühle der Sterbenden wieder. Die Vorräte sind verbraucht. Madama La Mort gewinnt. »Wo ist das Gesetz?« Diese Frage bleibt in den Herzen aller. Für die junge Welt hat sie derzeit eine besondere Bedeutung. Schon einiges wurde gespendet, um ihr den Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland zu erleichtern. Denn die junge Welt wird vom Verfassungsschutz in seinen Berichten genannt, aus ihrer Sicht zu Unrecht.
»Ho, Ho, Ho Chi Minh!« – dieser Rhythmus der Studentenrevolte von 1968 beendet Zerbes »Floß«. Bewusst abrupt: wie eine Aufforderung, selbst weiter zu denken, weiter zu handeln. Am Dienstag wurden beim tosenden Applaus ebenfalls »Ho, Ho, Ho Chi Minh!«-Rufe laut, in allen Tonlagen. Was Dietmar Koschmieder bei der Begrüßung gesagt hatte, wurde real: »Wir bringen etwas zusammen!«
Hinweis: Einige Angaben wurden am 10.9.2024 präzisiert (jW)
DVD im jW-Shop: www.jungewelt-shop.de/DVD-Das-Floss-der-Verdammten
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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