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Aus: Ausgabe vom 13.09.2024, Seite 15 / Feminismus
Hetze

Auf dem Rücken einer Schülerin

Nach Palästina-Soli bei Zeugnisübergabe erlebt 18jährige Anfeindungen von Konservativen
Von Jakob Reimann
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Gegen die »Staatsräson« und in deutschen Schulen nicht gern gesehen: Palästinasolidarische Demo in Berlin (18.5.2024)

Die Rechnung ging nicht auf: Die CDU Castrop-Rauxel hat eine 18jährige Schülerin, die sich beim Übereichen ihres Abiturzeugnisses mit den Menschen in Gaza solidarisiert hatte, öffentlich an den Pranger gestellt. Doch anstatt mit rechten Cancelwünschen und einem rassistischen Antrag politisch zu punkten, schlug dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Michael Breilmann vernichtende Kritik entgegen und der jungen Palästinenserin online eine Welle der Solidarität.

Am 28. Juni gingen rund 70 Schülerinnen und Schüler des Ernst-Barlach-Gymnasiums einzeln auf die Bühne, um ihr Abiturzeugnis in Empfang zu nehmen, und schüttelten Schulleiter und Bürgermeister die Hand. Diana Z. schwenkte dabei kurzzeitig die palästinensische Flagge. Das Video der Solidaritätsaktion machte schnell auf Tik Tok die Runde und veranlasste die städtische CDU-Fraktion zu einem empörten Schreiben an den Bürgermeister Rajko Kravanja (SPD), den Schulleiter Friedrich Mayer und andere. Das Schwenken der Flagge sei eine »absolut inakzeptable Instrumentalisierung der EBG-Abiturfeier«, echauffierte sich Breilmann, der auch für die Union im Bundestag sitzt. Von einer »gezielten politischen Provokation« war die Rede, ohne dass ausgeführt wurde, wer durch die Solidaritätsbekundung mit einer unter Krieg leidenden Bevölkerung eigentlich provoziert worden sei. Die CDU-Fraktion sei »irritiert und entsetzt«. In dem öffentlichen Schreiben vom 9. Juli wird der vollständige Name der 18jährigen Schülerin genannt, was einen fragwürdigen Umgang mit deren Recht auf Privatsphäre darstellt. Die CDU beantragte, dass »der Vorgang« auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des zuständigen Betriebsausschusses gesetzt werde.

Ob Diana Z. zuvor »durch propalästinensischen Aktivismus im Unterricht oder im Umfeld der Schule auffällig geworden« sei und »Helfershelfer« befragt worden seien, wurde sich im Schreiben erkundigt. Auch Schulleiter und Bürgermeister gerieten ins Visier der Christdemokraten; warum hätten die beiden »die Aktion nicht nur nicht unterbunden, sondern ihr (der Schülerin, jW) anschließend sogar noch die Hand gegeben«, zeigt sich Breilmann empört. Die CDU hätte sich wohl die öffentliche Demütigung der 18jährigen gewünscht. Warum habe man der Schülerin nicht »coram publico eine Rüge erteilt und sie des Saales verwiesen«. »Die Schülerin auf der Abiturfeier hat ausschließlich kurz eine Flagge eines von vielen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anerkannten Staates hochgehalten«, heißt es in der schriftlichen Antwort des Bürgermeisters Kravanja an die CDU-Fraktion, die von den Ruhr Nachrichten am Sonntag veröffentlicht wurde. »Es wurden keinerlei politische Äußerungen getätigt oder in Schriftform hochgehalten. Daher gab es keinen Grund, die Veranstaltung abzubrechen«, so Kravanja weiter.

Der Journalist Jules El-Khatib machte in sozialen Netzwerken und auf dem Nachrichtenportal Die Freiheitsliebe auf den Fall aufmerksam. Die CDU-Fraktion gab sich schließlich mit der Reaktion des Bürgermeisters zufrieden und zog nach erheblichem öffentlichem Druck den Antrag zurück. »Hetzen, diffamieren, stigmatisieren und kriminalisieren ist und war nie eine Lösung, sondern führt nur zur weiteren Ausgrenzung und Radikalisierung«, heißt es im scharfen Ton in einer Stellungnahme der Integrationsliste Castrop-Rauxel. »Ich verstehe nicht, warum kein Dialog möglich ist«, kritisierte die Vorsitzende Aysel Cetin das Verhalten der CDU am Donnerstag gegenüber jW. In der Vergangenheit hätte Breilmann bei anderen Themen oft zur Mäßigung und zum Austausch aufgerufen, was hier scheinbar jedoch nicht mehr zähle; »diese Doppelmoral macht mich wütend«, so Cetin weiter. »Auf dem Rücken einer jungen Schülerin sollte hier politisch gepunktet werden.«

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