75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 19. September 2024, Nr. 219
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 13.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Keiner von der Bürgerrächerbande

Zum Tod des Theologen und DDR-Oppositionellen Friedrich Schorlemmer
Von Christian Stappenbeck
Erinnerungsmal_Schwe_52704233.jpg
Wäre mal wieder eine Idee: Schwerter zu Pflugscharen mit Friedrich Schorlemmer

Ein Charakterkopf war der 1944 in der Prignitz geborene Pfarrerssohn Friedrich Schorlemmer schon immer. Er schwamm selten oder nie mit dem Strom. Sein Lebensweg führte bildlich-tatsächlich von Wittenberge an der Elbe stromaufwärts nach Lutherstadt Wittenberg. Schon als Schüler war er nicht bei den Pionieren, das Abitur hatte er auf der Abendschule nachzuholen. Den Regierenden nach dem Munde zu reden, weigerte er sich vor wie nach dem Anschluss der DDR, die er missbilligte und zugleich erhalten wollte. Im Dezember 1989 trat er recht früh aus dem Demokratischen Aufbruch wieder aus, als dieser von den Eppelmännern scharf nach rechts ausgerichtet wurde.

Mit den nachholenden Wadenbeißern der »Bürgerrächerbande« (O-Ton Schorlemmer) hat er sich nie gemein gemacht. Das bedeutete gelegentlich, sich »von Freunden zu trennen«. Aber ein antikommunistisches Ressentiment kam doch zum Ausdruck, wenn er – dem Heiligenlegenden und Rituale gewiss nicht fremd sein durften – gegen die Ritualhelden der SED allergisch war und freimütig zugab: An der Wahrheit des kommunistischen Widerstandes gegen Hitler hatte ich kein Interesse.

Beruflich wirkte er bis 1978 als evangelischer Studentenpfarrer, danach als Dozent, Studienleiter und begeisterter Publizist. Als Prediger war er eindringlich, als Autor wägte er die Worte ab, da war keines zuviel. Schorlemmer gehörte zu der Minderheit, die gegen den Irak-Krieg 2003, gegen den Einmarsch in Afghanistan 2001 und gegen den NATO-Überfall auf Jugoslawien 1999 die Stimme erhob. Er selbst nannte sich einen kämpferisch-politischen Pazifisten im Sinne von Bonhoeffer, Tucholsky, Ossietzky.

Einen Mann, der wie Schorlemmer 1983 öffentlichkeitswirksam ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden ließ – einen solchen würde unsere Zeit dringlicher denn je benötigen. Leider fiel der dammeligen DDR-Regierung nichts besseres ein, als das Schwert-Pflug-Zeichen (eine sowjetische Skulptur! Ein biblisches Gleichnis!) in der Öffentlichkeit zu verbieten, statt es sich sofort anzueignen und damit die NATO-Nachrüster zu blamieren. Da schlug die Stunde der Dissidenten. Am wenigsten Charakterkopf war Schorlemmer, als er sich 2009 vom Bundespräsidenten das Verdienstkreuz 1. Klasse der BRD anheften ließ.

Vor zwei Jahren gab Schorlemmer seine Demenzerkrankung bekannt und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Am 9. September starb er 80jährig in Berlin-Spandau. Das ­Motto, das über seinem autobiographischen Bericht von 2011 stand, trifft das Verhältnis vieler zu ihm: »Die Bezeichnungen Freund und Feind bitte stets mit Datum versehen.«

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Stephan Protschka, Landesvorsitzender der bayerischen AfD, spric...
    03.09.2024

    Erstmals?

    Parteien nach den Landtagswahlen
  • Mitgefühl: Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee möc...
    28.09.2023

    Nähe zum Volk

    Tiefensee fühlt mit Ostdeutschen

Mehr aus: Feuilleton