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Aus: Ausgabe vom 30.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Ernte 24

Ernte 24: Das Weißkrautmassaker

Von Thomas Behlert
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Waren es der Dottenfelder Dauer, Domarna oder Marner Weißkohl? Wir wussten es nicht mehr, nur dass dieses Kraut voller Vitamin C, Vitamin K, Magnesium, Selen und Kalium und in der DDR ständig verfügbar war

Es war an einem Oktobertag des unheimlichen Jahres 1989. Unsere Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (Gemüse­produktion), hach, welch herrlich langer Name, sollte zwölf Tonnen Weißkraut ins brandenburgische Land bringen, damit man dort Sauerkraut und andere langweilig schmeckende Konserven produzieren konnte. Da ich als Pflanzenschutzbeauftragter eh nichts zu tun hatte und ich nicht immer das Baumaterial für die Häuser errichtenden Genossenschaftsbauern transportieren wollte, bot ich mich als Beifahrer an, denn der eigentlich eingeteilte Hilfsarbeiter war nicht aufzutreiben. Er wollte auf unbestimmten Wegen in die BRD flüchten, um dort endlich als Hilfsarbeiter tätig werden zu können.

Schnell den IFA W 50 L Zweiseitenkipper mit dem Gemüsegold der DDR beladen, und nach durchzechter Nacht ging es auf nach Brandenburg. Immerhin hatten wir wunderbare Sorten des Kreuzblütlers (Brassica) an Bord. Waren es der Dottenfelder Dauer, Domarna oder Marner Weißkohl? Wir wussten es nicht mehr, nur dass dieses Kraut voller Vitamin C, Vitamin K, Magnesium, Selen und Kalium und in der DDR ständig verfügbar war. Die Fahrt gestaltete sich ganz hervorragend, die letzten Sonnenstrahlen begleiteten uns, und die Kugelumlauflenkung des Lkw aus dem VEB Automobilwerke Ludwigsfelde zeigte, dass die zuvor durchgeführte Schmierung richtig durchgeführt wurde. Bevor wir nach längerer Fahrt auf das Betriebsgelände der Konservenfabrik einbogen, aßen wir in einer Dorfkneipe Krautrouladen und Eintopf mit Kraut und gönnten uns ein fürchterliches alkoholfreies Bier, genannt Aubi.

Leider wurden wir im VEB nicht wie in früheren Jahren sehnsüchtig erwartet. Nach längerer Wartezeit kam der Betriebsdirektor angeschlendert und berichtete freudestrahlend, dass sie jetzt vermehrt für die BRD produzieren und nur noch einwandfreie und saubere Waren annehmen würden. Nach kurzem Blick auf die Krautköpfe verweigerte er die Annahme, da noch einige Strunken aus dem Kohlkopfhaufen hervorlugten. Unseren Einwand, dass die Kohlerntemaschine E 80 aus dem VEB-Kombinat für Gartenbautechnik Berlin das Gemüse nicht anders ernten kann, ließ der Genosse nicht gelten. Schließlich wollte der »Westen« (Allkauf? Spar? Plus?) das Kraut nur komplett verarbeitet kaufen.

Mit Wut im Bauch fuhren wir vom Betriebsgelände auf den nächsten abgeernteten Acker und kippten das Gemüse, aus dem man auch einen Rohkostsalat hätte herstellen können, ab. Im Dorfladen (Konsum) kauften wir zwei Messer mit 30 Zentimeter langen Klingen, mehrere Flaschen Bier, Bockwürste und die letzten Brötchen. Zurück am gigantischen Krauthaufen begannen wir das Kraut mit dem Messer zu bearbeiten. Braune Blätter und die unsäglichen Strunken wurden entfernt, und die nun herrlich in der Sonne leuchtenden Köpfe landeten wieder auf dem W 50 L (4-Zylinder-4-Takt-Diesel, Wasserkühlung, Hubraum 6560 ccm, 125 PS). Nach vier Stunden lag die Ware komplett auf dem Zweiseitenkipper, die Bierflaschen waren gelehrt und die Würste gegessen. Wenige Minuten vor Betriebsschließung bogen wir erneut auf dem Gelände ein. Gleich kam Brigadier B. auf uns zugelaufen, schrie freudig: »Endlich!« und ließ das Weißkraut ohne es anzuschauen abkippen, unterschrieb unsere Transportpapiere, reichte uns einige Gläser, die mit verarbeitetem Kraut gefüllt waren, und verschwand in der Produktionshalle. Fluchend fuhren wir schlingernd auf der recht leeren Autobahn gen Thüringer Heimat. Später erfuhren wir dann, dass die Ware keiner mehr haben wollte, da die falschen Etiketten, mit EVP-Angabe (Endverbraucherpreis), auf den Gläsern prangten.

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