Zeit für Gegenwehr
Von Emil BunkeIn der Metall- und Elektroindustrie sollte an diesem Dienstag die Friedenspflicht auslaufen. Ab 00.01 Uhr darf zur Durchsetzung der Tarifforderungen gestreikt werden: Die IG Metall (IGM) kündigte in ihren sieben Bezirken unmittelbar mit Ende der Friedenspflicht eine erste Warnstreikwelle an. Auch die VW-Konzernbetriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo bekräftigte vor der anstehenden Verhandlungsrunde am Mittwoch erneut den Widerstand gegen Massenentlassungen beim Automobilkonzern.
Die IGM fordert sieben Prozent mehr Entgelt und 170 Euro mehr Azubivergütung für die rund 3,9 Millionen Beschäftigten der Branche. Die Tarifverträge sind gekündigt, den Industrieverbänden Forderungen überreicht. Zwei Verhandlungsrunden scheiterten sofort, da das Gegenangebot deutlich unter den Forderungen lag. Volkswagen verbreitet sogar Nachrichten über Lohnkürzungen um zehn Prozent.
Die IGM-Bezirke bereiten sich vor. Die Kapitalseite sei »noch sehr weit von unseren Forderungen entfernt«, sagte der IG-Metall-Bezirksleiter Bayern und Verhandlungsführer Horst Ott. In Bayern werde »unmittelbar nach Ablauf der Friedenspflicht« zu Warnstreiks aufgerufen. Der Vorstand spiele »massiv mit dem Risiko, (…) dass hier bald alles eskaliert«, erklärte Konzernbetriebsrätin Cavallo vor dem Wolfsburger Stammwerk am Montag. »Damit meine ich, dass wir die Gespräche abbrechen und das tun, was eine Belegschaft tun muss, wenn sie um ihre Existenz fürchtet.«
Nullrunde angekündigt
Die Kapitalseite will die Tabellenentgelte nach neun Nullmonaten nur um 1,7 Prozent im Juli 2025 und noch einmal um 1,9 Prozent im Juli 2026 anheben. 13 Monate lang keine Lohnsteigerung: Die letzte Tariferhöhung lag im Mai 2024 bei 3,3 Prozent und wurde gemeinsam mit einer Tariferhöhung im Juni 2023 um 5,2 Prozent vereinbart. Der offiziellen Inflationsrate gegenübergestellt, wird deutlich: Die Beschäftigten erleiden auch in den Folgejahren einen Reallohnverlust. Die Deutsche Bank gibt die Inflationsraten für 2023 mit 5,9 Prozent, die Prognose 2024 mit 2,8 Prozent an. Für 2025 sollen es 2,7 Prozent, 2026 dann 2,2 Prozent sein. Die (angebotenen) Tariferhöhungen liegen, bis auf 2024, durchweg unter der Teuerung.
Reallohnverlust und Konzerngewinne
Die Kaufkraft der arbeitenden Klasse ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Bei der jüngsten Neujustierung der Inflationsberechnung im Januar 2023 wurden Ausgaben für Wohnung, Wasser, Strom und Brennstoffe mindergewichtet, obwohl die Preise dort teilweise überproportional angehoben wurden. Für das Gesamtjahr 2022 standen so nur noch 6,9 Prozent und nicht mehr 7,9 Prozent. Wohnen wurde von den Statistikern etwa mit 25,9 Prozent der Verbraucherausgaben gewichtet, obwohl Mieter etwa im Schnitt 36 Prozent ihrer Konsumausgaben dafür aufbringen. Auch Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke waren im Juli 2024 im Schnitt mehr als 32 Prozent teurer als vor vier Jahren.
Gleichzeitig erzielten die 100 größten Unternehmen in Deutschland in den letzten zwölf Monaten insgesamt Gewinne von etwa 155 Milliarden Euro. Die von dieser Tarifrunde betroffene Autoindustrie hat daran erheblichen Anteil: VW erzielte in den ersten zwei Quartalen 2024 ein operatives Ergebnis von 10,1 Milliarden Euro. Trotz Rückgang im Vorjahresvergleich erhielten Aktionäre im Juni Rekorddividenden von insgesamt 4,53 Milliarden Euro: Die Dividende hat sich von 2021 bis 2023 übrigens fast verdoppelt.
Kampfansage des Kapitals
Dennoch hat VW – parallel zur Veröffentlichung der IGM-Tarifforderungen für die Metall- und Elektroindustrie – mehrere Tarifverträge, darunter die seit 1994 geltende Beschäftigungssicherung bis 2029, gekündigt. Für letztere tritt eine Nachwirkung bis zum 30. Juni 2025 in Kraft. Danach sind betriebsbedingte Kündigungen möglich. Ein Frontalangriff des Kapitals, nicht nur gegen VW-Beschäftigten, sondern die gesamte IG Metall.
Denn Tarifverträge bei VW galten als Vorzeigewerke der angeblich gut funktionierenden Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaft und Kapitalvertretern. VW gestattete IGM-Organisationsgrade in den Werken von mehr als 90 Prozent und bezahlte Beschäftigte, abgesichert durch einen Haustarifvertrag, über den vergleichbaren Flächentarifvertrag. Gleichzeitig sorgte die IGM für keine größeren Arbeitsniederlegungen in den Werken – also reibungsloses Profitemachen.
Die Vertragskündigungen leiten nun einen umfassenden Sparplan bei VW ein, der auch Standortschließungen und Massenentlassungen beinhaltet. Es wird kein Zufall sein, dass diese Kürzungsorgie zeitgleich mit Beginn der wichtigsten Branchentarifrunde der IG Metall verkündet wurde. Bereits im ersten Gespräch bei VW hatte die Geschäftsführung die Forderungen der Gewerkschaft im September zurückgewiesen und auf Einsparungen gedrängt. Betriebsrätin Cavallo zufolge fordert VW nun zehn Prozent Lohnkürzung sowie Nullrunden in den kommenden beiden Jahren.
Koordinierte Gegenwehr?
Die IG Metall gibt sich kämpferisch. Thorsten Gröger, der für VW zuständige IG-Metall-Verhandlungsführer und Bezirksleiter aus Nieder-Sachsen-Anhalt, sprach am Montag von einem »tiefen Stich in das Herz der hart arbeitenden VW-Belegschaft«. Sollte VW diesen Kurs am Mittwoch bestätigen, müsste der Vorstand mit entsprechenden Konsequenzen rechnen. »Wenn die Chefetage den Abgesang Deutschlands einläuten will, muss sie mit einem Widerstand rechnen, den sie sich so nicht ausmalen kann!«
Die Abwehrkämpfe bei VW mit dem Kampf um Lohnsteigerungen in der Metall- und Elektroindustrie zu verknüpfen, könnte sich als taktisch sinnvoll erweisen. Die IG Metall will ihren Forderungen mit Warnstreiks Nachdruck verleihen. Eine Verknüpfung der im Grunde kaum zu trennenden Kämpfe bei VW und in der restlichen Branche findet bisher aber kaum statt. Für die Beschäftigten bleibt zu hoffen, dass es ein Streikkonzept gibt, das nicht bei Warnstreiks aufhört, sondern anerkennt, dass die Sozialpartnerschaft als Beruhigungspille dient, um in Ruhe den Klassenkampf von oben zu führen. Die aktuellen Angriffe von Kapitalvertretern zeigen das deutlich. Zeit für Gegenwehr.
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