»Von Wertschätzung kann man sich nichts kaufen«
Interview: Interview: Thorben Austen, QuetzaltenangoSie haben im Oktober ein Buch über den Volksaufstand der indigenen Bevölkerung in Guatemala 2023 veröffentlicht. Die Demonstranten forderten den Rücktritt von Amtsträgern der Staatsanwaltschaft und die Respektierung der Ergebnisse der Wahl vom 20. August vergangenen Jahres, die der Sozialdemokrat Bernardo Arévalo deutlich gewonnen hatte. Wie kamen Sie dazu, ein Buch darüber zu schreiben?
Ich war im November letzten Jahres während der Proteste vor Ort, um ein Buch über die indigene Spiritualität vorzustellen. Bei dieser Reise entstand dann die Idee zu einem neuen Buch über die Entwicklungen, das im wesentlichen die Positionen der Protagonisten wiedergibt.
Wer sind diese Protagonisten?
In Interviews kommen einflussreiche indigene Personen zu Wort. Am 16. Januar, einen Tag nach der Amtseinführung von Präsident Bernardo Arévalo und damit dem Ende der Proteste, bin ich nach Totonicapán gefahren und habe mich dort mit Luis Pacheco getroffen. Pacheco war Präsident der 48 Kantone, die die Proteste maßgeblich initiiert hatten. Bei dem Gespräch war auch seine Ehefrau anwesend, es war sehr eindrucksvoll. Luis war die gesamte Zeit bei den Protesten anwesend. Gegen seine Frau gab es Drohungen von Paramilitärs, sie musste sich verstecken. Ihre vier Kinder hielten den Vater zeitweise für tot, weil sie nichts mehr von ihm gehört hatten.
Danach hat mich der damalige Präsident der indigenen Bürgermeister in San Christóbal Totonicapán zu weiteren Gemeinden mitgenommen. Es war mir wichtig, die Proteste zu dokumentieren, auch um das Vertrauen der indigenen Bevölkerung in sich selbst zu stärken, welches durch Jahrhunderte der Diskriminierung stark angegriffen ist.
Ging es bei den Protesten nur um das Wahlergebnis?
Nein. Es wurde immer wieder betont, dass es nicht um die Person Bernardo Arévalo geht, sondern um den Respekt für die Entscheidung des Volkes und die abgegebenen Stimmen. Die indigenen Organisatoren wollten nicht, dass Arévalo bei den Protestorten anwesend ist – mit Ausnahme des Tages der Amtseinführung. Das war ein Unterschied zur Mobilisierung in den Städten, wo es stark um die Arévalo selbst ging.
Wie sehen Sie die ersten zehn Monate der Regierung Arévalo?
Es war vorher klar, dass die Bourgeoisie sehr stark ist. Trotzdem hätte ich mehr Veränderung zum Besseren erwartet. Ein großes Problem sind die fortgesetzten Bergbauaktivitäten, auch die Repression geht hier weiter. Das darf nicht sein. Arévalo hat zudem das Problem, dass die Verträge mit den Bergbauunternehmen auf viele Jahre angelegt sind. Positiv ist, dass das Bildungsministerium beginnt, die Schulen zu renovieren, und mehr Lehrer einstellen will. Aber auch hier müsste es grundsätzlicher werden: mit neuen Lehrplänen, die speziell auf Guatemala zugeschnitten sind. Heute gibt es Lehrpläne für alle mittelamerikanischen Länder, die nicht besonders auf die Lebensrealität, Kultur und Geschichte Guatemalas eingehen.
Die indigene Bevölkerung leidet seit Jahrhunderten unter Rassismus. Konnten die Proteste im vergangenen Jahr eine Veränderung bewirken?
Zumindest nicht in dem Sinne, dass die strukturellen, politischen und ökonomischen Ursachen von Diskriminierung und Rassismus beendet wurden. Es gibt aber positive Aspekte. So sind in der heutigen Regierung von Bernardo Arévalo mehr Funktionäre indigener Herkunft vertreten als in jeder vorangegangenen Regierung. Bisher gab es indigene Regierungsfunktionäre nur im Ressort Sport und Kultur. Das ist unter anderem ein Ergebnis des Aufstandes. Insgesamt gibt es mehr Wertschätzung für die indigene Bevölkerung. Aber von Wertschätzung kann man sich nichts kaufen. Für ein Ende der strukturellen Benachteiligung müsste zum Beispiel die Landfrage angegangen werden.
Leonor Hurtado Paz y Paz ist Aktivistin und Autorin
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