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Aus: Ausgabe vom 11.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Östlich der Russendisko

The Rocky Disco Road to Tashkent: Eine Kompilation eröffnet musikalische Welten der 80er jenseits des Urals
Von Maik Rudolph
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Synthies ballern auch in Burjatien: Disco in Sewerobaikalsk (1980)

Als die faschistische Wehrmacht mit der »Operation Barbarossa« 1941 ihren Angriffskrieg in die Sowjetunion trug, ließ Stalin kriegsrelevante Schlüsselindustrien in den Osten evakuieren. Auch die Intelligenzija der Union wurde verlegt, darunter Autoren, Schneider, Wissenschaftler, Komponisten und Regisseure. Sie alle wirkten nun in den Gebieten des heutigen Usbekistans, aber auch Kasachstans und Tadschikistans – ein Schmelztiegel des kulturellen Austauschs. Die Pfadabhängigkeit historischer Entwicklungen, ihre Notwendigkeit, ist immer nur im nachhinein zu erfassen, wenn ein Narrativ gesponnen, ein Telos geschrieben und die Kontingenz beseitigt sind – Slavoj Žižek begründet auf dieser banalen Einsicht seine jahrzehntelange Karriere. So kann gesagt werden: Stalin hat nicht nur unzähligen Menschen das Leben gerettet, er ist auch der Vater der Diskofunkexplosion der 80er Jahre im Westen des Tianshan-Gebirges und nördlich von Duschanbe.

Das New Yorker Label Ostinato Records hat Ende August einen Doppel-LP-Sampler veröffentlicht, dessen Titel Programm ist: »Synthesizing the Silk Roads: Uzbek Disco, Tajik Folktronica, Uyghur Rock & Tatar Jazz from 1980s Soviet Central Asia«. Vik Sophonies noch relativ junges Label mausert sich mit diesem Album, aber auch mit Sammlungen nubischer Electronica, von Soul und Tanzmusik des Sudan bis Dschibuti, zu einer ernsten Konkurrenz der nicht weniger exotischen Sampler von Soul Jazz Records.

Anvar Kalandarov – die Taschkenter Antwort auf Wladimir Kaminer – hat die vergangenen zwei Dekaden seines Lebens damit verbracht, sich auf der Suche nach alten Platten durch Privatsammlungen und Flohmärkte zu wühlen. Heute würde niemand mehr diese Schätze aus der UdSSR kennen, sie seien aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden, klagte Kalandarov im Oktober gegenüber Al-Dschasira.

Den Schatz dieser Musikkultur, über die ein umfassendes Werk von Frank Apunkt Schneider einfach fehlt, hat Kalandarov im Nachlass des Taschkenter Gramplastinok gehoben. Das Vinylwerk war nach Kriegsende von dorthin evakuierten Musiktechnikern gegründet worden, wie die Liner Notes des Samplers – ein veritabler Essay über die Kulturpolitik in den zentralasiatischen Republiken – erklären.

Eröffnet und abgerundet wird die Kompilation von zwei heute noch aktiven Musikern, die nicht um Anerkennung ringen müssen, sind sie doch ausgezeichnete Volkskünstler Aser­baidschans und Usbekistans: Nasiba Abdullajewa und Ismoil Jalilov, der auch früher am Moskauer Bolschoi-Theater tätig war. Eine sichere Bank.

Angelina Petrosova träumt sich weg aus Usbekistan in »jamaikanische Nächte, zu Lagunen und Korallenriffs (…) / Der entfernte Klang einer Marimba und eines Reggae-Stückes« – doch dann geht der Wecker, »er ruft mich zur Arbeit«, die Sorgen sind wieder da. Mit Reggae hat das Stück bis auf einen Anklang von Steeldrums aus dem Synthesizer nur wenig gemein, viel mehr mit 80er Pop. Die Londoner Musikzeitschrift Uncut fühlte sich sogar an die Pet Shop Boys erinnert.

Das staatliche uigurische Musiktheater Yashlik lässt deutlich erklingen, dass dank der Förderung musikalischer Diversität während Chruschtschows Amtszeit in den 60er Jahren gerade Deep Purple einen großen Einfluss auf die jungen Leute hatten. Die Tadschiken von Makhfirat Khamrakulova und Gulshan adaptierten deren Sound auf »Rezaboron« (Regen) samt Synthieplätschern für das Joan-Jett-­affine Publikum der 80er.

Junge Menschen sollen eigene Musik spielen, nicht nur den aus den USA importierten Musiktrends nachlaufen, forderte 1976 der DJ Hardijs Lediņš aus der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik in einem Diskomanifest. Die drei Mal hier vertretenen Usbeken Original haben es verinnerlicht: Ätherische Reisen durch Synthiewelten, flirriger Weltraumklang à la Meco, vielleicht auch etwas Karat.

Funkexplosionen zündet Natalya Nurmuhamedova, deren Flammen vom Stomper »Lola« der Gruppe Bolalar mit hämmernden Italo-Disko-Beats und dem an Waleri Leontjew erinnernden New-Wave-Sound auf der Tanzfläche weiter angefacht werden.

Einfach mal »die Nadel fallenlassen, dann hören Sie nicht bloß seltene sowjetische Tanzmusik. Sie reisen entlang der Seidenstraße, erleben wilde Diskonächte der UdSSR«. Auch diesen so antikommunistischen wie verwegen-idealistischen Seitenhieb kann sich Ostinato Records leider im offiziellen Werbetext nicht sparen: Der Hörer erlebe eine von Beats inspirierte Jugend, »die schließlich den Eisernen Vorhang von innen heraus aufbrechen ließ«. Die Aufklappseiten der Hülle sind voller Originalaufnahmen jener wilden Nächte, unzählige Plattencover dienen der Verzierung. Wer sich die umständliche Suche auf unzähligen Youtube-Kanälen, Sammlerkonvoluten oder Discogs ersparen will, dem sei diese Perle ans Herz gelegt. Im Regal am besten östlich der Russendisko-Sampler plazieren.

Various: »Synthesizing the Silk Roads: Uzbek Disco, Tajik Folktronica, Uyghur Rock & Tatar Jazz from 1980s Soviet Central Asia« (Ostinato Records)

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