Im Urlaub für die Einheit
Von Leo SchwarzMatthias Gehler will »nicht die DDR zurück« und versichert, »kein schlechtes Gewissen« zu haben. In der letzten DDR-Regierung hätten er und andere »das Möglichste getan mit den Mitteln, die wir hatten, und in dem Zeitfenster, das uns blieb«. Allerdings sind die Erinnerungen, die der ehemalige Sprecher der Regierung de Maizière (und nachmalige Chefredakteur des MDR in Thüringen) nun veröffentlicht hat, trotz allerlei krauser Urteile über die DDR und andere Dinge keine hundertprozentige Apologetik der Resultate der Abwicklung des ostdeutschen Staates.
Es verdient immerhin Beachtung, wenn ein CDU-Mann wie Gehler unverblümt konstatiert, dass nach 1990 Westdeutsche »reihenweise nur im Eigeninteresse die leitenden Stellen in den Ministerien, Universitäten, Betrieben und Medien besetzten« und dort »bis heute die Stellung halten«. Er spricht von einem »treuhänderischen Ausverkauf« und davon, dass der Osten »zum Absatzmarkt der Westwirtschaft« gemacht worden ist. Das ist alles vollkommen richtig, wurde noch vor ein paar Jahren aber eben nur in kritischen publizistischen Nischen so ausgesprochen.
Das Buch ist ein anekdotenreicher, zum Teil um Einordnung bemühter Bericht eines Akteurs, keine historische Studie. Seine kritische Komponente bilden Beobachtungen, die Gehler zum selbstherrlichen Auftrumpfen von Westdeutschen und zum damit einhergehenden verächtlichen Umgang mit der Kompetenz von DDR-Bürgern gemacht hat. Ihm gelingen da einige lesenswerte Skizzen, darunter etwa das Kapitel über den Dolmetscher und Protokollchef Franz Jahsnowski, der sieben Sprachen fließend sprach, für den »die Regierenden des vereinten Deutschlands« aber keine Verwendung mehr hatten.
Ein konkretes Erlebnis der Herabsetzung hat auch den Titel für das Buch geliefert. Anfang August 1990 – wenige Wochen, nachdem mit der Währungsunion die wirtschaftliche und soziale Katastrophe in Ostdeutschland eingeleitet worden war – versuchte Bild (das Blatt erschien längst mit Regionalausgaben in der DDR), die von Tag zu Tag wachsende Unzufriedenheit vieler Menschen gegen die längst als lästig empfundene DDR-Regierung zu lenken. Am 2. August 1990 lautet die Balkenschlagzeile: »Die Menschen verzweifeln – die Minister machen Urlaub«. Behauptet wurde da, dass gleich zwölf Minister parallel im Urlaub seien. Allein: Das war frei erfunden. Gehler ließ sich mit Bild-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje verbinden. Der kurze, in dem Buch wiedergegebene Wortwechsel zeigt, mit was für einer erstaunlichen Verachtung der politisch-mediale Komplex der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt sogar denjenigen in der DDR entgegentrat, die gar nichts gegen die »Wiedervereinigung« hatten. Auf den Vorhalt, dass die Geschichte nicht stimme, soll Tiedje ins Telefon geschrien haben: »Was macht das, Gehler?« Um dann zu fragen, ob Gehler »die Einheit« wolle.
An anderer Stelle vermerkt Gehler, wie »herabwürdigend« er das bald in der Bundesrepublik kursierende Wort von der »Laienspielschar« in Ostberlin fand. Zu der habe dann doch auch Angela Merkel gehört – die war nämlich seit April 1990 seine Stellvertreterin. Ihre Einstellung nennt Gehler übrigens »die beiläufigste Sache der Welt«; er nehme nicht für sich in Anspruch, sie »entdeckt« zu haben. »Einigungsvertrag« reklamiert er aber als »meine Wortschöpfung«. Na dann.
Matthias Gehler: »Wollen Sie die Einheit – oder nicht?« Erinnerungen des Regierungssprechers. Edition Ost, Berlin 2024, 256 Seiten, 18 Euro
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