Kriegführung umgewälzt
Nichts ist abhängiger von ökonomischen Vorbedingungen als gerade Armee und Flotte. Bewaffnung, Zusammensetzung, Organisation, Taktik und Strategie hängen vor allem ab von der jedesmaligen Produktionsstufe und den Kommunikationen. Nicht die »freien Schöpfungen des Verstandes« genialer Feldherrn haben hier umwälzend gewirkt, sondern die Erfindung besserer Waffen und die Veränderung des Soldatenmaterials; der Einfluss der genialen Feldherrn beschränkt sich im besten Fall darauf, die Kampfweise den neuen Waffen und Kämpfern anzupassen.
Im Anfang des 14. Jahrhunderts kam das Schießpulver von den Arabern zu den Westeuropäern und wälzte, wie jedes Schulkind weiß, die ganze Kriegführung um. Die Einführung des Schießpulvers und der Feuerwaffen war aber keineswegs eine Gewalttat, sondern ein industrieller, also wirtschaftlicher Fortschritt. Industrie bleibt Industrie, ob sie auf die Erzeugung oder die Zerstörung von Gegenständen sich richtet. Und die Einführung der Feuerwaffen wirkte umwälzend nicht nur auf die Kriegführung selbst, sondern auch auf die politischen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse. Zur Erlangung von Pulver und Feuerwaffen gehörte Industrie und Geld, und beides besaßen die Städtebürger. Die Feuerwaffen waren daher von Anfang an Waffen der Städte und der auf die Städte gestützten, emporkommenden Monarchie gegen den Feudaladel. Die bisher unnahbaren Steinmauern der Adelsburgen erlagen den Kanonen der Bürger, die Kugeln der bürgerlichen Handbüchsen schlugen durch die ritterlichen Panzer. Mit der geharnischten Kavallerie des Adels brach auch die Adelsherrschaft zusammen; mit der Entwicklung des Bürgertums wurden Fußvolk und Geschütz mehr und mehr die entscheidenden Waffengattungen; durch das Geschütz gezwungen, musste das Kriegshandwerk sich eine neue, ganz industrielle Unterabteilung zulegen: das Ingenieurwesen.
Die Ausbildung der Feuerwaffen ging sehr langsam vor sich. Das Geschütz blieb schwerfällig, die Handrohre trotz vieler Einzelerfindungen roh. Es dauerte über dreihundert Jahre, bis ein Gewehr zustande kam, das zur Bewaffnung der gesamten Infanterie taugte. Erst anfangs des 18. Jahrhunderts verdrängte das Steinschlossgewehr mit Bajonett die Pike endgültig aus der Bewaffnung des Fußvolks. Das damalige Fußvolk bestand aus den stramm exerzierenden, aber ganz unzuverlässigen, nur mit dem Stock zusammengehaltenen, aus den verkommensten Elementen der Gesellschaft, oft aus gepressten, feindlichen Kriegsgefangenen sich zusammensetzenden fürstlichen Werbesoldaten, und die einzige Kampfform, in der diese Soldaten das neue Gewehr zur Verwendung bringen konnten, war die Lineartaktik, die unter Friedrich II. ihre höchste Vollendung erreichte. Das ganze Fußvolk eines Heeres wurde in einem dreigliedrigen, sehr langen hohlen Viereck aufgestellt und bewegte sich in Schlachtordnung nur als Ganzes. (…) Diese unbehülfliche Masse war in Ordnung zu bewegen nur auf einem ganz ebnen Gelände, und auch da nur im langsamen Tempo (fünfundsiebzig Schritt auf die Minute); eine Änderung der Schlachtordnung während des Gefechts war unmöglich, und Sieg oder Niedertage wurden, sobald die Infanterie einmal im Feuer war, in kurzer Zeit mit einem Schlag entschieden.
Diesen unbehülflichen Linien traten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Rebellenhaufen entgegen, die zwar nicht exerzieren, aber desto besser aus ihren gezognen Büchsen schießen konnten, die für ihre eigensten Interessen fochten, also nicht desertierten wie die Werbetruppen, und die den Engländern nicht den Gefallen taten, ihnen ebenfalls in Linie und auf freier Ebene gegenüberzutreten, sondern in aufgelösten, rasch beweglichen Schützenschwärmen und in den deckenden Wäldern. (…)
Was die amerikanische Revolution begonnen, das vollendete die französische, auch auf militärischem Gebiet. Den geübten Werbeheeren der Koalition hatte sie ebenfalls nur schlecht geübte, aber zahlreiche Massen entgegenzustellen, das Aufgebot der ganzen Nation. (…) Das bloße Schützengefecht reichte nicht aus; es musste eine Form auch für die Massenverwendung gefunden werden, und sie fand sich in der Kolonne. Die Kolonnenstellung erlaubte auch wenig geübten Truppen, sich mit ziemlicher Ordnung zu bewegen und das selbst mit einer größeren Marschgeschwindigkeit (hundert Schritt und darüber in der Minute), sie erlaubte, die steifen Formen der alten Linienordnung zu durchbrechen, in jedem, also auch in dem der Linie ungünstigsten Terrain zu fechten, die Truppen in jeder irgendwie angemessenen Art zu gruppieren und, in Verbindung mit dem Gefecht zerstreuter Schützen, die feindlichen Linien aufzuhalten, zu beschäftigen, zu ermatten, bis der Moment gekommen, wo man sie am entscheidenden Punkt der Stellung mit in Reserve gehaltenen Massen durchbrach.
Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Dritte Auflage, Stuttgart 1894. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 20. Dietz-Verlag, Berlin1973, Seiten 154-156
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