Das Gefühl der Befreiung
Von Jürgen BlockLiebe ist eine tolle Sache, durch Goethes Dichtung wird sie noch toller. Und mit dem Buch des Philologen und Philosophen Thomas Metscher haben wir die Chance, die Liebe auch noch zu verstehen: als eine Kraft, die den Menschen erst zum Menschen macht.
Um einen ersten Eindruck von Metschers Arbeitsweise und seiner auf fünfzigjähriger Forschung beruhenden Interpretation des »Faust« zu bekommen, müssen wir etwas ins Detail gehen. Es lohnt sich.
Fangen wir am besten mit dem Ende von Goethes »Faust«-Drama an, weil dort die größten Überraschungen stecken. In den himmlischen »Bergschluchten«, der letzten Szene, erscheint plötzlich das Gretchen, das im ersten Teil vom Schuft Faust geschwängert, im Stich gelassen und dann wegen Kindstötung von der Obrigkeit hingerichtet wurde. Nach christlicher Gerechtigkeitsvorstellung müsste sie eigentlich in der Hölle schmoren. Was hat Goethe da gemacht?
Gretchen erscheint in dieser Szene, in der der Aufstieg der Seelen in den Himmel dargestellt wird, zunächst als »Büßerin«, sie hat also für ihre Tat bezahlt. Aber nach Metscher ist von entscheidender Bedeutung, dass sie das Liebesthema in die Dramenhandlung gebracht hat. Nicht in einem Monolog mit eigenen Worten drückt sie ihre Liebe zu Faust aus, sondern indem sie das Lied singt: »Es war ein König in Thule«. Das heißt: Sie drückt ihre eigenen Gedanken und Gefühle zunächst in einer vorgegebenen literarisch-musikalischen Form, in etwas Fremdem aus. Es wird sich zeigen, dass dies auch eine literarische Methode von Goethe vor allem im zweiten Teil des »Faust« ist.
Diese Liebesfähigkeit und -tätigkeit qualifiziert Gretchen also in Goethes Augen nicht nur für den Himmel: Nach Metschers Lesart bekommt Gretchen sogar den höchsten Rang im Himmel zugewiesen, sie verkörpert als »höchste Herrscherin der Welt« die Liebe selbst.
In vielen anderen Interpretationen wird in der Göttin, die in den »Bergschluchten« gefeiert wird, die Jungfrau Maria gesehen, so dass das Dramenende bei diesen häufig einen katholischen Touch erhält. Aber Metscher weist darauf hin, dass Goethe keine einheitliche, systematische Weltanschauung oder gar Religion vertritt, wie dies viele Interpretationen stillschweigend voraussetzen, sondern dass er sich aus vielen Philosophien seit der Antike und aus anderen Kulturkreisen das Interessanteste herauspickt, um seine eigenen Gedanken in fremden Formen, das heißt für die »Bergschluchten«: in Form christlicher Symbole und Motive, auszudrücken. Außerdem liest Metscher den Text genau, denn nachdem Gretchens Seele sich zu »höheren Sphären« erhoben hat, werden die Zuschauer in der Szene und im Theater in der grammatischen Form des Imperativ Plurals angesprochen und aufgefordert: »Blicket auf«, und damit soll nicht Gretchen zur Jungfrau Maria, sondern andersherum die Zuschauer zu Gretchen aufblicken und sie verehren, und dabei erhält Gretchen ihre vier neuen Namen: »Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin«.
Nach Metscher hat Goethe hier den alten männlichen Gott entthront und Gretchen als weibliche Göttin und Himmelskönigin an seine Stelle gesetzt. Als Vorbild können wir uns die Friedensgöttin von Herder vorstellen. Männer haben wegen der bisherigen von ihnen zu verantwortenden Geschichte voller Krieg und Gewalt jeden Anspruch auf Weltherrschaft verspielt.
Die »Faust«-Handlung kann als Beispiel einer gewalttätigen Männergeschichte gelesen werden. Nachdem Faust sich im ersten Teil an Gretchen vergangen hat, geht er im zweiten Teil des Dramas auf Egotrip. Wichtige Stationen: Eroberer der antiken Helena, Berater und Heerführer des mittelalterlichen Kaisers, neuzeitlicher Kapitalist, Kolonisator, Herr über Tausende von Knechten und Zusammenrauber eines Weltbesitzes. In den meisten »Faust«-Interpretationen zur Zeit des Deutschen Reiches und der Weltkriege wurde dieser »tatkräftige«, buchstäblich über Leichenberge gehende Faust unverhohlen als positiver Held gesehen und als ideologisches Leitbild für Erziehung und Kultur verordnet.
Ab etwa dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts wurde jedoch wie auf Knopfdruck diese Interpretationsrichtung umgepolt und auf den Kopf gestellt – nun rückten Germanistik und die meisten Theaterinszenierungen ebenso einseitig die negativen Seiten von Faust in den Vordergrund. Nun wurde er als scheinheiliger Großsprecher herausgestellt, der wegen der Befriedigung selbstsüchtiger Interessen und als Symbol für eine rücksichtslose »Modernisierung« ungeheure Schuld auf sich geladen hat. Wie könnte ein solcher Sünder in die »Bergschluchten« aufsteigen?
Nach Metschers Interpretation formuliert Faust an seinem Lebensende eine Utopie der Befreiung, die ihn sozusagen himmelsfähig macht. Im Todesmonolog verkündet der erblindete Faust sein visionäres Befreiungsprojekt, das den Menschen frei von aller bisherigen Knechtschaft erlauben soll, »(n)icht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen«. Allerdings wird er wegen seiner Blindheit getäuscht. Er hört seine »Arbeiter« mit den Spaten vermeintlich einen Damm zur Landgewinnung aufwerfen, aber in Wirklichkeit schaufeln die Lemuren, teuflische Helfer des Mephisto, sein eigenes Grab.
Für die Faust-kritischen Interpreten ist diese Szene, in der Faust aufgrund einer Sinnestäuschung auf seine eigene Utopie hereinfällt, ein gefundenes Fressen. Für sie ist klar, dass solche Befreiungsvisionen nur weitere Verbrechen bewirken. Allerdings haben sie dann das Problem, zu erklären, weshalb das Stück nicht mit diesem Monolog endet, sondern noch die »Bergschluchten« mit ihrem versöhnlichen Ende folgen. Taschenspielerlösung: Diese Interpreten erklären die Schlussszene kurzerhand zu Ironie.
Metscher dagegen nimmt die Szene ernst. Demnach erhält Faust durch Gretchen in den »Bergschluchten« Vergebung für seine Sünden. Sie verkörpert als Prinzip der Liebe »(d)as Werdende, das ewig wirkt und lebt« und hat damit die Fähigkeit, die »schwankende Erscheinung«, wie Faust sie darstellt, als »Widerspruchsfigur« (Metscher) anzuerkennen und ihn zum »neuen Tag« und ewigen Leben in den himmlischen Gefilden einzuladen.
Diese überraschende und erfreuliche Perspektive für Fausts Seele lässt sich nach Metschers Auffassung durch die Dialektik der Arbeit erklären. Menschliche Tätigkeit in der gesellschaftlichen Produktion ist gekennzeichnet durch den Doppelcharakter der Arbeit, die eine barbarische, (selbst-)zerstörerische und eine humane, menschenbildende Seite hat. Metscher verweist unter anderem auf Goethes »Prometheus«-Fragment. Trotz dieses unentwirrbaren Ineinanders von Barbarei und Humanität ist Arbeit für die Realisierung der Utopie unverzichtbar. Die »seligen Knaben« in den »Bergschluchten« verraten den Grund: »Doch dieser (Faust) hat gelernt, / Er wird uns lehren«. Faust hat mit seiner gegenständlichen Tätigkeit in der Auseinandersetzung mit der Natur Welt- und Naturwissen erworben, das für die Realisierung der Utopie der Liebe unverzichtbar ist. Metscher würde wohl den folgenden Sätzen zustimmen: Der Aufbau einer gerechten und friedlichen Gesellschaft setzt einen hohen Entwicklungsstand der Produktivkräfte voraus, wie umgekehrt die Entwicklung von »guten« Produktivkräften ein friedliches Miteinander voraussetzt. Zusammen bilden Gretchens Utopie der Liebe (die auch den Frieden umfasst) und Fausts Utopie der Arbeit die konkrete Utopie der Menschenbefreiung.
In früheren Fassungen des »Faust« hat Goethe die Utopie der Liebe nur in Form eines Schlussmonologs formuliert, der sich appellartig an das Publikum richtet. In der Endfassung der »Bergschluchten« bekommen die Utopien nun eine sinnliche Gestalt. Metscher zeigt uns, dass in den Versen dieser Szene die »Sprache auf der Suche nach Musik« ist. Durch die Musikalität der Verse bekommen Leser und Zuschauer ein sinnliches Vorgefühl ihrer Befreiung. Mit Metscher wäre weiter zu überlegen, ob sich in dieser sinnlichen Lesebewegung nicht auch die »ewig waltende Natur« fühlen lasse, so dass sich in Goethes subjektivsten lyrischen Formen die objektive Natur zeige. Wie auch immer.
Mit dieser Wendung wird das »Faust«-Drama nach Metschers Auffassung zu einer Tragikomödie, die in der Lage ist, die tragischen Momente des Stücks in einem Happyend aufzuheben, das aber äußerst ungewiss und durch Krieg und Selbstvernichtung permanent gefährdet ist.
Der berühmte Schluss lautet: »Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan«. Vielleicht stellt er den Umschlagspunkt dar, an dem das Drama praktisch wird. Leser und Zuschauer sind auf den Weg gebracht, an Stelle von Faust und Gretchen die Utopien in der Realität zu verwirklichen. Sie sind Teil einer gesellschaftlichen Bewegung (»uns«), die durch Humanität (das »Ewig-Weibliche«) zu einem befreiten Leben »hinan«-gezogen wird.
Thomas Metschers Buch »Faust und die Dialektik« bringt uns einen Goethe nahe, der unentbehrlich werden könnte für alle, die sich für Frieden und eine menschengemäße Zukunft einsetzen. Denn noch ist nicht endgültig entschieden, ob unsere Geschichte in einer Tragödie oder einer Tragikomödie enden wird.
Metschers Buch ist herausfordernd, aber leserfreundlich verfasst, da jedes Kapitel mit Wiederholungen der bisherigen Argumentation beginnt, so dass man jederzeit die Orientierung behält. Anlesetip: das siebente Kapitel, in dem es um Faust und die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft geht. Hier erfahren wir unter anderem, wie Germanistenkollegen Metschers Forschungsergebnisse über »Faust und die Ökonomie« (1976) übernommen und als eigene Entdeckungen ausgegeben haben. Als besonderes Bravourstück sei das sechste Kapitel hervorgehoben, das das Drama mit der »Phänomenologie des Geistes« von Hegel in Beziehung setzt.
Für die zweite Auflage wäre dem Band freilich ein Personen- und Sachregister zu wünschen, das das Studium sehr erleichtern würde.
Thomas Metscher: Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung. Mangroven-Verlag, Kassel 2024, 610 Seiten, 40 Euro
Jürgen Block ist Schriftsteller und Lehrer. Er lebt in Bremerhaven.
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