Das Gewaltproblem
Von Gerhard HanloserEs gibt wenige historische Texte, die im Sinne Walter Benjamins Tigersprung plötzlich in die Jetztzeit hineinbrechen und Ungeahntes auch zu aktuellen Themen beitragen. Ein solches großartiges historisches Dokument ist das 1931 erstmals auf deutsch erschienene Buch des linken Sozialrevolutionärs Isaak Steinberg, »Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der Russischen Revolution«. Jüdische Emanzipationsgeschichte, Reflexionen über Gewalt im Geschichtsprozess und Bilanz des bolschewistischen Projekts – dafür steht der Name des ersten Justizministers nach der Oktoberrevolution in Russland.
Steinberg gehörte zu den jüdischen Territorialisten, er lehnte die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina ab. Seines Erachtens müsse der »jüdische Geist« danach streben, die Differenz von Politik und Moral zu überwinden. Er war der Auffassung, dass eine Staatskonstitution das jüdische Volk seiner Umwelt gleichmachen und somit dessen »menschheitsgeschichtliche Mission« verraten würde. Hier klingen orthodox-jüdische Motive an, doch Steinberg war Materialist und Praktiker: Für ihn war nicht entscheidend, wo die Juden zusammenfinden, sondern dass sie zusammenfinden, um ihre Identität bewahren und ihr Leben retten zu können. Steinberg und seine Mitstreiter gaben folglich auf die sogenannte Araberfrage ganz andere Antworten als die Zionisten. Die Territorialisten strebten weder eine Kolonisierung Palästinas auf Kosten der arabischstämmigen Bevölkerung an, noch wollten sie deren Ausschluss aus der Arbeit, wie es sozialistisch-zionistische Strömungen verfochten. In der Judenfeindschaft der Araber sahen Steinberg und andere Territorialisten ein dauerhaftes Konfliktpotential, dem ein jüdischer Staat in Palästina nur mit einer absolut verwerflichen Militarisierung des jüdischen Lebens begegnet würde. Deswegen sollten sich die Juden, die sich zusammenfinden wollen, in anderen Weltgegenden umschauen. So engagierte er sich als Mitbegründer der Freeland League für die Ansiedlung verfolgter europäischer Juden in der nordaustralischen Region Kimberley.
Sein wichtigstes Werk bilanziert allerdings die Russische Revolution. »Terror und Gewalt« wurde ab 1920 verfasst, soeben ist beim Anares-Verlag ein Reprint erschienen. Wie Hendrik Wallat in seinem kenntnisreichen Nachwort der Neuauflage schreibt, hatte wohl Karl Korsch für die Zeitschrift für Sozialforschung eine Rezension verfasst, die jedoch als verschollen gilt und die man gerne gelesen hätte. Der anarchistische Karin-Kramer-Verlag legte das Buch dann – durchaus gegen den bundesdeutschen Neoleninismus der Nach-68er-Zeit gerichtet – 1974 wieder auf. Schließlich hatte Steinberg den »Gegensatz zweier Sozialistentypen« konstatiert: Die einen hingen am politischen Nutzen und Gebrauch des Staates, die anderen schätzten den Schutz des Menschen.
Steinberg verwirft in seiner Schrift jegliche gesetzmäßige Konzeption von Geschichte, in der die Menschen mit ihren realen Problemen und Erfahrungen einer fremden Logik unterworfen werden, und sei es eine historische Stufenfolge: »Soll der Mensch Schöpfer und Urheber der Geschichte oder nur ihr Götzendiener und Gefangener ihrer Gesetze sein?« fragt er und setzt: »Das Volk sucht in der Revolution nie irgendwelche ›historischen Gesetze‹ zu erfüllen oder eine von oben vorgezeichnete bestimmte ›Entwicklungsetappe‹ zu durchschreiten.« Denn die Revolution wird zwar von der Geschichte gemacht, aber in der Revolution macht man Geschichte.
Steinberg war zugleich Ethiker und Gewaltkritiker. Er spricht als Revolutionär – ein Etikett, das er nur denen zugesteht, die sich dem Problem der Gewalt stellen. Diese unterscheidet er vom Terror. Während Gewalt stets »mit einem Mangel belastet«, doch in einer Revolution oftmals nicht zu vermeiden sei, mache Terror aus der Not eine Tugend. Den Terror beschreibt er als ein »System der zum Ausdruck kommenden oder dazu bereiten Gewaltanwendung von oben«, die von der Auflösung der legitimen Organisationen der Werktätigen wie Räte, Gewerkschaften, Kongresse oder freiwilligen bewaffneten Vereinigungen begleitet wird. Terror sei die zentralisierte dauerhafte Gewalt des Staates oder einer Partei. Gewalt und Wut der Massen seien dagegen »stürmisch, aber nicht anhaltend«. Die Massen hätten eine »Neigung zum politischen Verzeihen«, zugleich habe die »erzieherische Rolle« der verschiedenen sozialistischen Parteien in der »Epoche der revolutionären Sturmflut« positive Wirkung gehabt. Steinberg meint hier ausdrücklich nicht die bolschewistische Partei, »die gerade umgekehrt in der Aufstachelung der Volksleidenschaften, in der Spekulation auf die tatsächlich barbarischen Züge des Volkscharakters die Forcierung der Revolution erblickte«. Steinberg macht den Terror für den Abschwung des revolutionären Enthusiasmus im revolutionären Russland verantwortlich: »Ja, die Seele des revolutionären Volkes ist schwer krank … Das werktätige Volk, das die Revolution akzeptiert und geschaffen hat, fühlt sich durch die Methoden, Wege und Taten dieser Revolution verletzt.«
Laut Steinberg verwechselten die Bolschewiki den Klassenkampf »mit der Hetze gegen Gruppen und Personen«. Er kritisierte eine den Terror kennzeichnende Personifizierung, die ihn von revolutionärer Gewalt unterscheidet: »An Stelle der Klassen der Kapitalisten und Gutsbesitzer hat man als die unmittelbaren Feinde der Werktätigen mehr oder weniger geschickt den ›Bourgeois‹ und den ›Gutsbesitzer‹ gesetzt.« In einem zweiten Schritt werde eine politische und soziale Abstraktion als Feind angeboten, eine Sündenbockkonstruktion, die er am Beispiel der Verfolgung der Kadettenpartei im Dezember 1917 beschreibt. Dabei wurden keine realen Personen wegen eines realen Vergehens angeklagt, sondern eine politische und soziale Abstraktion (»die Kadettenpartei«) verdächtigt.
Für Steinberg wie für Anhänger Bakunins ist das »Volk« mit seinen »natürlichen Instinkten« stets eine positive Größe. So grenzt er, der auch auf das Sporadische, wenig Systematische des Volkszorns aufmerksam macht, diesen positiv gegenüber dem staatlichen und parastaatlichen Terror ab. Hier würden sich wichtige Diskussionen anschließen lassen, denn die konterrevolutionären, ethnischen, hooliganistischen und pogromistisch-antisemitischen Gewaltphänomene rund um das Jahr 1917 gingen eben auch vom einfachen Volk aus – und die Bolschewiki gaben darauf die bekannten Antworten.
Das Buch sei allen Kommunisten und Revolutionären empfohlen, die keine historischen Scheuklappen hinsichtlich des bolschewistischen Revolutionsmodells tragen wollen. Es kann auch die verheerende Fehlrezeption des 7. Oktober 2023 in kleinen Teilen propalästinensischer Gruppen erhellen, die diesen koordinierten und strategisch geplanten Terror mit der gerechtfertigten spontanen Gewalt der Unterdrückten verwechseln.
Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der Russischen Revolution. Anares-Verlag, Bremen 2024, 356 Seiten, 28 Euro
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