Das Ohr muss vergnügt sein
Von Kai KöhlerDas Bruckner-Jubiläumsjahr mit dem 200. Geburtstag neigt sich dem Ende zu, da gaben die Berliner Philharmoniker seine letzte Sinfonie. Erste Skizzen zu dem Werk entstanden fast ein Jahrzehnt vor Bruckners Tod 1896. Seine letzten vier Lebensjahre arbeitete er intensiv daran, und dennoch blieb das Finale Fragment. Zumeist, und auch hier werden nur die drei Sätze aufgeführt, die Bruckner fertigstellen konnte.
Schon diese lassen deutlich genug hören, dass sich die Arbeit nicht allein wegen nachlassender Gesundheit hinzog, auch für seine Verhältnisse. Zwar erkennt man Verfahrensweisen aus den vorangehenden Sinfonien wieder. Allerdings ist aus ihnen etwas Neues gewonnen. Herkömmliche Formabschnitte sind noch erkennbar, doch tritt die ständige Verwandlung eng verwandter Motive derart in den Vordergrund, dass das Gerüst ebenso gut wegfallen könnte. Das Orchester zeigt eine dunkle, oft fahle Klangfarbe. Sicheren Boden findet man kaum je, wozu die für die Entstehungszeit gewagte Harmonik beiträgt.
Herbert Blomstedts Interpretation des Werks, die der Dirigent am 19., 20. und 21. mit den Philharmonikern darbot, ist außerordentlich, technisch und damit inhaltlich. Es gibt nicht die Hauptstimme und allerlei Beiwerk, sondern jede Einzelheit hat ihre Funktion für das Ganze; und zwar für den Fortgang des Ganzen. Es gibt Aufführungen, die interessant sind, weil sie Details hervorheben, die man auch in vielgehörten Sinfonien noch niemals wahrgenommen hat. Doch droht das Werk dann oft, in einzelne Momente zu zerfallen. Hier aber konnte jeden Moment die Neben- zur Hauptsache werden und ging alles in einer Gesamtbewegung auf.
Das scheint beruhigender als es tatsächlich war. Auf keine emotionale Station ist Verlass, stets droht ein Umschwung. Die Dissonanzen in dieser Sinfonie hört man wohl kaum je so schneidend. Die zahlreichen Steigerungen führen zumeist zu Abschnitten von düster dröhnender Monumentalität.
Nun kann man das gepflegt zurücknehmen, dem Publikum gleichsam kulinarisch servieren, oder aber spektakulären Lärm veranstalten. Blomstedt hingegen stimmte nicht nur die Höhepunkte so aufeinander ab, dass er die klare Dramaturgie der Sinfonie zeigte. Er verdeutlichte auch, was sich sogar während solcher Passagen noch vollzieht und entwickelt. Das macht die Sache weitaus erschreckender. Hier gewinnt die Technik inhaltliche Bedeutung.
»Der Musikant Gottes« lautete der Titel eines Theaterstücks zum Bruckner-Jahr 2024. Dass der Komponist katholisch kirchentreu war, ist nicht zu bezweifeln. Doch vor harmonisch gewagten Stellen wie dem leer hallenden Ende des Kopfsatzes oder dem knirschenden Höhepunkt des Adagios zerfällt religiöse Gewissheit ebenso wie jede andere Heilszuversicht. Es sind solche Stellen absoluter Erkenntnis, auf die die ganze Musikgeschichte hinzielt. Im Scherzo sind die Anklänge an den Volkstanz, der den Satztyp einst ausmachte, noch zu erahnen. Doch ist er in ein maschinenartiges Hämmern verwandelt. Bruckners Neunte ist in ihren ersten drei Sätzen – und mehr noch den vorhandenen Abschnitten des Finales – eine Welt, in der elementare Kräfte aufeinanderstoßen, bis zur Vernichtung, bei wenig Hoffnung auf Trost.
Dieses Werk zu hören, und auf diese Weise, überdeckt andere Erfahrungen. Gegenüber dem ersten Teil des Konzerts ist dies zweifellos ungerecht. Leif Ove Andsnes war der Solist in Mozarts 20. Klavierkonzert, das mit Bruckners Neunter die Tonart d-moll teilt. Mozart dürfte 1785 das Publikum ähnlich gefordert haben wie Bruckner ein gutes Jahrhundert später. Jahrzehntelang wurde Bruckners Sinfonie in einer entschärften Bearbeitung ihres ersten Herausgebers gespielt. Mozart führte als Pianist sein Werk so schnell auf, dass der Notenkopist kaum zu den Proben fertig wurde. Die düsteren Stimmungen und das Gewicht des Orchesters waren ebenso ungewöhnlich wie der Aufbau des ersten Satzes, in dem ein Hauptthema schwer auszumachen ist und den eine kaleidoskopartige Verarbeitung von Motiven bestimmt. Ob die plötzliche Wendung zum Heiteren in den letzten Takten des Werks besänftigt oder vielmehr irritiert, bleibt offen.
Das Programmheft jedenfalls zitiert Mozart, der schreibt, dass »die Musick, auch in der schaudervollsten Lage, das Ohr niemalen beleidigen, sondern auch dabey vergnügen muß«. Dies zeichnet auch sein d-moll-Klavierkonzert aus. Dass man über die gesellschaftlichen Vor- wie Nachteile solcher Dezenz nachdenken kann, zeigt eine Qualität des Philharmoniker-Programms. Hörbar wurde jedenfalls, dass Andsnes das Werk nicht als Vorläufer sinfonischer Klavierkonzerte des 19. und 20. Jahrhunderts begreift, sondern abseits jedes Romantizismus musikalische Linien herausarbeitet. Ideal war das Zusammenwirken von Solist, Dirigent und Orchester: wie die Beteiligten Bewegungsimpulse aufnahmen, dialogisierten, und auch hier aus den Teilen ein Ganzes schufen.
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