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Aus: Ausgabe vom 24.12.2024, Seite 7 / Ausland
Ukraine-Krieg

Eine Armee zerfällt

Ukraines Militär nach drei Kriegsjahren: Enorme Verluste, Korruption und Leuteschinderei im Innern
Von Reinhard Lauterbach
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Die Kreuze werden mehr, die Aussichten düsterer: Präsident Selenskij besucht Lwiw (17.12.2024)

Ein verwackeltes Handyvideo, aufgenommen auf einem Behördenflur, angeblich in Odessa und vom Portal strana.news veröffentlicht. Dunkel gekleidete Gestalten sind in ein Handgemenge mit den Eltern eines zwangsrekrutierten jungen Mannes verwickelt, es wird geschrien und geflucht. Dann fällt ein Schuss, gefolgt vom endlos langen Schmerzensschrei einer Frauenstimme. Der Vater des Rekruten lebt nicht mehr.

Ein anderes Video, aufgenommen in einem Stadtbus irgendwo in der Ukraine. Uniformierte tragen einen Mann an Händen und Füßen auf die Straße. Die Passagiere sitzen teilnahmslos daneben, keiner sagt ein Wort.

Und noch eines: Ein Taxi hält an, steht einen Moment, bis der Passagier bezahlt hat. Als er aussteigt, schafft er es nicht die zehn Schritte bis zu seinem Hauseingang, weil ihn drei oder vier dunkel gekleidete Männer an den Armen packen und aus dem Bild zerren. So gewinnt die Ukraine neue Soldaten.

Kürzlich machte in der Ukraine ein Video aus der 211. Brigade der Territorialverteidigung Furore: Ein Soldat posiert vor einem in einer Grube aufgestellten Kreuz, an das ein anderer Soldat gefesselt ist. Deserteure aus der Brigade gaben es an die Medien, und der Skandal zwang Oberbefehlshaber Olexander Sirskij, den Brigadekommandeur bis zum Abschluss der Ermittlungen zu beurlauben. Der Grund für die Misshandlung des gekreuzigten Soldaten war angeblich, dass er im Dienst Alkohol getrunken – und dem Zugführer, der vor ihm posiert, kein Schweigegeld gezahlt hatte.

Wie ukrainische Soldaten im Internet berichten, ist Korruption in der Armee verbreitet. Nicht nur in den Wehrersatzämtern, wo der Preis für eine Untauglichkeitsbescheinigung inzwischen auf 20.000 US-Dollar gestiegen ist, sondern auch an der Front selbst. Für ein paar hundert Euro an den Kompanie- oder Bataillonschef kann man sich demnach auf einen Druckposten im Hinterland versetzen lassen; wer nicht zahle, werde in die vorderste Linie geschickt und bei der nächsten Ablösung »vergessen«. Die Liste lässt sich fortsetzen; ukrainische Generäle beklagen, dass fast eine Million mobilisierter Männer nie an der Front angekommen seien.

Gleichzeitig steigen die Verluste. Entgegen dem, was ukrainische und westliche Experten immer wieder behaupten, sind sie auf ukrainischer Seite nicht nur relativ zur Bevölkerung – die russische ist dreimal so groß wie die ukrainische – höher, sondern auch in absoluten Zahlen. Am Freitag wurden Zahlen für den letzten Austausch von gefallenen Soldaten zwischen beiden Seiten bekanntgegeben. Demnach übergab die Ukraine Russland in der belarussischen Stadt Gomel die Leichen von 42 gefallenen Russen, Russland seinerseits die sterblichen Überreste von 502 Ukrainern. Ähnliche Zahlenverhältnisse prägten auch die Bilanzen früherer Gefallenenaustausche in diesem Jahr. Auch wenn die Zahl der zu übergebenden toten Ukrainer wahrscheinlich zwangsläufig größer ist, weil Russland auf dem Vormarsch ist und so gefallene Gegner zu bergen hat, die die ukrainische Armee beim Rückzug zurücklassen musste, ist das Ungleichgewicht zu groß, um sich mit solchen statistischen Basiseffekten erklären zu lassen.

An diesem Wochenende zeigte der polnische Fernsehsender TVN24 eine Reportage aus dem vorweihnachtlichen Lwiw. In den Kirchen finden Trauerfeiern im Schichtbetrieb statt, eine Messe vormittags, eine nachmittags, Soldaten tragen Särge ihrer Kameraden hinein. Eine frühere Grünanlage ist zum »Marsfeld« umbenannt worden und dient als Begräbnisstätte für gefallene Soldaten. Die Kamera zeigt frische Gräber, soweit das Objektiv reicht. Auf einem Platz eine Installation: ein langer Tisch mit leeren Stühlen, auf deren Rückenlehnen Uniformjacken hängen. Es soll ein Gedenkort für vermisste Soldaten sein, von deren Verbleib die Angehörigen nichts wissen. Frauen umarmen einander.

Ukrainische Politiker beschwören derweilen die Kriegswende im kommenden Jahr; westliche Strategen rechnen aus, wie lange die Ukraine das noch aushält. Vielleicht bis zum nächsten Sommer. Die USA und Großbritannien verlangen, das Einziehungsalter auf 18 Jahre zu senken. Kiew verweigert das – bisher – mit dem Argument, dann sei eine ganze Generation gefährdet, die das Land wieder aufbauen und Familien gründen müsse, damit die Ukrainer als Nation erhalten blieben.

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