Antifaschistische Aufklärung
Von Kai KöhlerEr muss eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein. Sergej Iwanowitsch Tulpanow (1901–1984) schloss sich im russischen Bürgerkrieg der Roten Armee an, lehrte an Leningrader Hochschulen und übernahm als Politoffizier im Zweiten Weltkrieg propagandistische Aufgaben. Wenn man ihn heute in Deutschland noch kennt, dann wegen der ersten Nachkriegsjahre, als er innerhalb der Sowjetischen Militäradministration (SMA) Leiter der Verwaltung Propaganda bzw. der Informationsverwaltung war und damit zuständig für antifaschistische Aufklärung und für Kulturpolitik.
Als Oberst besaß Tulpanow, der bereits im Elternhaus Deutsch gelernt hatte, innerhalb der SMA nicht den höchsten Rang. Und doch gelang es ihm, zumindest in seinem Arbeitsbereich eine Besatzungspolitik zu prägen, die zugleich eine Erziehung zum Besseren war. Er konnte ermessen, wie schwierig es war, mit Menschen, die soeben noch imperialistischer und faschistischer Propaganda ausgesetzt gewesen waren, etwas Neues aufzubauen. Seine fünfjährige Tochter Dolores war während der Blockade von Leningrad verhungert. Zugleich war ihm klar, dass es mit den Deutschen in Zukunft auszukommen galt und dass es mit den Heimkehrern aus dem Exil, aber auch mit manchen in Nazideutschland Gebliebenen Partner für eine Zusammenarbeit gab. Der rasche Neuaufbau fortschrittlicher Bildungsinstitutionen im Osten Deutschlands, ein erneuertes Theater und Kino sowie die Gründung des Kulturbunds sind mit Tulpanows Wirken verbunden.
Inge und Michael Pardon haben ihn in den 70er Jahren in Leningrad kennengelernt. Tulpanow betreute Inge Pardons Dissertation, und daraus entwickelte sich eine Freundschaft. So ist dieses reich illustrierte Buch, trotz vieler Verweise auf Dokumente, weniger als wissenschaftliche Biographie anzusehen denn als ein Zeichen der Verehrung. Die Schwächen der Darstellung sind offenkundig. Zu ihnen zählt, dass die Autoren zwischen den Zeitebenen hin- und herspringen, was die Übersicht nicht eben erleichtert und zu unaufgelösten Widersprüchen führt. Vor allem wird nicht klar, worin die deutschlandpolitische Konzeption bestand, die Tulpanow hier zugeschrieben wird.
Grundsätzlich gab es aus sowjetischer Sicht drei mögliche Ziele einer Besatzungspolitik: ein eigenständiger bürgerlich-demokratischer Staat im Osten; ein sozialistischer, in das Bündnissystem der UdSSR integrierter Staat; und ein neutrales Gesamtdeutschland, wie es die Sowjetunion noch 1952 vorschlug. Die Pardons legen nahe, dass Tulpanow die erste Variante bevorzugte. Zugleich zeigen sie mit wünschenswerter Deutlichkeit, dass die Westmächte vom Mai 1945 an ihre Zonen zu einem antikommunistischen Bollwerk ausbauten.
Aber es genügt nicht, Tulpanow als den erfolgreichen Kulturpolitiker zu beschreiben, der er tatsächlich war, und die Kritik an ihm, die sich in Berichten über seine Arbeit findet, zurückzuweisen. Vielmehr wäre zu untersuchen, zu welchem Zeitpunkt welche Optionen realistisch waren, was dann jeweils für und was gegen sie sprach. Offensichtlich jedenfalls ist, dass Tulpanow nicht als »Stalins Widersacher« gelten kann, wie es im Untertitel des Buches heißt. Für eine solche Rolle fehlte es ihm schlicht an Machtmitteln. Als »Stalins Macher« trat er auf, wenn man denn eine solche Personalisierung für sinnvoll hält. Als sowjetischer Kommunist erklärte er in der Besatzungszone die Parteilinie (was es mit eingeschränktem Archivzugang erschwert, seine eigenständige Position herauszuarbeiten). Es ist aufschlussreich für Tulpanows politisches Bewusstsein, dass er dies trotz persönlicher Gefährdungen leistete. Seine Eltern waren nach Verhaftungen in den 30er Jahren ums Leben gekommen. 1948 starb das einflussreiche Politbüromitglied Andrei Schdanow, der Tulpanow seit dessen Militärdienst in Leningrad kannte und schätzte. Im Folgejahr wurde Tulpanow aus Deutschland in die Sowjetunion zurückbeordert und musste eine Inhaftierung fürchten.
Er konnte allerdings in die Wissenschaft zurückkehren und war nach seiner Demobilisierung Lehrstuhlleiter für Politische Ökonomie an der Universität in Leningrad. Freilich wurden ihm bis 1965 keine Reisen in die DDR bewilligt – trotz zahlreicher Einladungen. Die intensiven Kontakte, die Tulpanow bis zu seinem Tod mit dem sozialistischen Teil Deutschlands unterhielt, belegen die Erfolge seines Wirkens. Dies herauszuarbeiten und zugleich Tulpanows Persönlichkeit anschaulich vorzustellen, ist die Stärke des Buches. Hinweise auf Parallelen zur Gegenwart fehlen nicht, nämlich auf die Bedeutung eines guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland, auch wenn es hier wie dort keinen Sozialismus mehr gibt. Ein paar Tulpanows heute wären hilfreich.
Inge und Michael Pardon: Tulpanow. Stalins Macher und Widersacher. Die Biografie. Edition Ost, Berlin 2024, 256 Seiten, 28 Euro
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