Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Montag, 23. Dezember 2024, Nr. 299
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Online Extra
21.12.2024, 19:00:00 / Inland
Anschlag in Magdeburg

Wahn mit tödlichen Folgen

Fünf Tote und zahlreiche Schwerstverletzte nach Angriff mit Pkw auf Weihnachtsmarkt. Täter offenbar Akteur im Milieu der rechten »Islamkritik«
Von Nico Popp
Nach_Todesfahrt_auf_84501603.jpg
Teilnehmer einer stillen Andacht am Samstag auf dem Domplatz in Magdeburg

Bei einem Anschlag mit einem Fahrzeug sind am Freitag abend in Magdeburg – mit Stand vom Samstag nachmittag – fünf Menschen, darunter ein neun Jahre altes Kind, getötet und über 200 verletzt worden. Um etwa 40 Menschen müsse man wegen der Schwere ihrer Verletzungen »große Sorge haben«, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, der am Samstag in Begleitung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser und CDU-Chef Friedrich Merz nach Magdeburg gekommen war. Scholz sprach von einer »furchtbaren, wahnsinnigen Tat«, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff von einer Katastrophe für die Stadt und das ganze Land.

Der Täter war um kurz nach 19 Uhr mit einem Mietwagen durch die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt in der Innenstadt gerast, auf den er über eine Lücke in den aufgestellten Betonpollern gelangt war. Nachdem er etwa 400 Meter zurückgelegt hatte, verließ er sein Fahrzeug und wurde festgenommen. Seit Freitag abend kursiert ein Video im Internet, das die rasende Fahrt quer über den Weihnachtsmarkt zeigen soll. Bei einer Pressekonferenz am Samstag nachmittag erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft in Magdeburg, es sei unklar, wer dieses Video aufgenommen und ins Netz gestellt hat.

Bei dem Täter handelt es sich nach bislang vorliegenden Informationen um den 50 Jahre alten, aus Saudi-Arabien stammenden Taleb A., der seit 2006 in der Bundesrepublik lebt und seit 2020 in Bernburg als Facharzt für Psychiatrie gearbeitet hat. 2016 erhielt er als »politisch Verfolgter« Asyl in der Bundesrepublik. Die Polizei war sich am Sonnabend sicher, dass es sich bei A. um einen Einzeltäter handelt.

Am Wochenende verdichteten sich die Hinweise darauf, dass A., der sich selber als Ex-Muslim bezeichnete, in dem international gut vernetzten Milieu rechter »Islamkritik« aktiv war. In sozialen Medien und Interviews erhob A. zuletzt immer lauter den Vorwurf gegen deutsche Behörden, den Islamismus zu fördern und Europa »islamisieren« zu wollen.

In seinem Profil beim Kurznachrichtendienst X mit rund 40.000 Followern, über das er zum Beispiel wiederholt Posts des rechten Aktivisten Salwan Momika teilte, der 2023 vor einer Moschee in Stockholm eine Ausgabe des Koran zerrissen und verbrannt hat, inszenierte sich A. als Vertreter einer »saudischen militärischen Opposition« und behauptete, »Deutschland« verfolge weibliche Geflüchtete aus Saudi-Arabien, »um ihre Leben zu zerstören«. A. präsentierte sich als Unterstützer für saudische Frauen, die aus ihrem Heimatland fliehen, erklärte aber zuletzt auf seiner Webseite: »Mein Rat: Bittet nicht um Asyl in Deutschland.« Unklar war am Sonnabend, warum der letzte Post über den X-Account von A. zu einem Zeitpunkt abgesetzt wurde, als er bereits über den Weihnachtsmarkt gerast war.

2019 hatte ihn die FAZ interviewt. A. sagte in dem Interview, er sei »der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte«. Im Laufe des Jahres 2024 wurden die Posts von A. bei X immer aggressiver. Vor zehn Tagen veröffentlichte die rechte US-Plattform RAIR ein mehr als 45 Minuten langes Interview mit A., in dem er der deutschen Polizei vorwirft, »geheime Operationen« durchzuführen und das Leben von Geflüchteten aus Saudi-Arabien, die sich vom Islam abgewendet haben, gezielt zu zerstören. RAIR beschreibt sich als »Graswurzel-Bewegung« und Plattform, die den Amerikanern die »schädlichen Auswirkungen des Kommunismus und der islamischen Vorherrschaft auf die Zivilisation« bewusst machen will. Die Aussagen von A. sind vielfach konfus; bei X präsentierte er sich als Unterstützer von Elon Musk, der AfD und Israels, erklärte aber auch, er sei »ein Linker«.

Die religionskritische Giordano-Bruno-Stiftung teilte am späten Nachmittag mit, A. habe »den Zentralrat der Ex-Muslime und die Säkulare Flüchtlingshilfe über mehrere Jahre hinweg terrorisiert«. Mina Ahadi, die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, erklärte demnach: »Anfangs vermuteten wir, er könnte ein Maulwurf der islamistischen Bewegung sein. Inzwischen denke ich jedoch, dass er ein Psychopath ist, der ultrarechten Verschwörungsideologien anhängt.« A. hasse »nicht nur Muslime, sondern alle, die seinen Hass nicht teilen«. A. habe die »linke« humanistische Ausrichtung des Zentralrats der Ex-Muslime und »der eng befreundeten Säkularen Flüchtlingshilfe« kritisiert. Im Dezember 2024 sei wegen anhaltender Verleumdungen noch einmal eine Strafanzeige gegen A. erstattet worden; die Anzeigeerstatterin habe die Staatsanwaltschaft explizit vor einem Anschlag gewarnt.

Einem Bericht des Spiegel zufolge hatte A. am Donnerstag einen Gerichtstermin in Berlin, zu dem er aber nicht erschien. Dabei soll es um den »Missbrauch von Notrufen« gegangen sein. Demnach war A. im Februar 2024 in einer Polizeiwache in der Hauptstadt aufgetaucht, um eine Anzeige zu erstatten. Vor Ort rief er den Feuerwehrnotruf und machte einen verwirrten Eindruck. Wegen des missbräuchlichen Notrufs erhielt er einen Strafbefehl über 20 Tagessätze à 30 Euro. In Sachsen-Anhalt sei gegen A. vor einem Jahr ein Verfahren gelaufen, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt von Magdeburg, Horst Walter Nopens, am Samstag. Details nannte er nicht. A. sei aber nicht als Gewalttäter im Fokus gewesen. »Wir hatten den jetzt nicht im Fokus, dass der solche Straftaten begeht dieser Art und Güte«, sagte Nopens.

Aus saudischen Sicherheitskreisen wurde nach der Tat erstaunlich rasch und detailliert lanciert, man habe die deutschen Behörden vor A. gewarnt. Seine Auslieferung sei beantragt worden, darauf aber habe die deutsche Seite nicht reagiert. A. stammt nach saudischen Angaben aus der Stadt Al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens. Er sei Schiit gewesen. »Das Königreich bringt seine Solidarität mit dem deutschen Volk und den Familien der Opfer zum Ausdruck«, schrieb das saudische Außenministerium in einer Mitteilung auf X.

Derweil hat die politische Debatte über den Anschlag, der mitten in den anlaufenden Bundestagswahlkampf fällt, begonnen. Die AfD-Landtagsfraktion von Sachsen-Anhalt forderte eine Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag, der AfD-Landesvorsitzende Martin Reichardt den Rücktritt von Innenministerin Zieschang. Gleichzeitig sah sich die Partei genötigt, klarzustellen, dass A. nicht Mitglied der AfD war. »Wir können ausschließen, dass der Täter von Magdeburg Mitglied der AfD war«, sagte ein Sprecher von Parteichefin Alice Weidel der Rheinischen Post. Ein Mitgliedsantrag habe nie vorgelegen. Weidel und der Kovorsitzende Tino Chrupalla erklärten am Abend, dass die AfD eine Sondersitzung des Bundestages fordert. Etwa zur selben Zeit fand in Magdeburg eine Kundgebung mit mehreren hundert Teilnehmern aus dem rechten Spektrum statt.

BSW-Chefin Sahra Wagenknecht forderte Bundesinnenministerium Faeser auf, die Frage zu beantworten, »warum so viele Hinweise und Warnungen im Vorfeld ignoriert wurden«. Bundeskanzler Scholz hatte zuvor in Magdeburg versichert, dass mit aller Präzision und Genauigkeit aufgeklärt werde: »Es darf nichts ununtersucht bleiben - und so wird es auch sein.«

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!