Auf die eigenen Füße
Von Reinhard LauterbachWer einmal den vor rund 100 Jahren erschienenen Roman »Das Totenschiff« des linken Bestsellerautors B. Traven gelesen hat, der weiß, dass das Phänomen der »Schattenflotten« so neu nun auch wieder nicht ist: alte, vergammelte Schiffe – damals sagte man »Seelenverkäufer« – die die Weltmeere nicht sicherer machen, das gab es auch damals schon, ebenso die finsteren Absichten der Reeder, die sie betrieben. Versicherungsbetrug war noch das Harmloseste.
Mit der Liberalisierung des Flaggenrechts und dem »Ausflaggen« von Schiffen aus den Jurisdiktionen, wo Transportgewerkschaften noch einige Augen auf die Arbeitsbedingungen der Seeleute haben konnten, hin zur Zuständigkeit obskurer Klein- und Kleinststaaten, wo der Reeder schalten und walten kann, wie er will, hat auch nicht Russland angefangen. Das Land nutzt nur die im Zuge der neoliberalen Globalisierung entstandenen Grauzonen, um die von der EU oder den USA verhängten Sanktionen gegen den russischen Öl-, Düngemittel- und Flüssiggasexport zu umgehen. Die Grauzonen sind aber nicht Moskaus Werk, sie werden vorgefunden. Ein solcher Fall eines Gammelfrachters mit 30.000 Tonnen russischen Ammoniumnitrats an Bord im letzten Sommer betraf ein Schiff, das unter der Flagge des EU-Mitglieds Malta lief. Der Inselstaat hat die Ehre, mit Roberta Metsola die Präsidentin des EU-Parlaments zu stellen. Kommt also offenbar in den besten Kreisen mit den weißesten Westen vor. Da fällt dem Westen sein eigenes Wirken auf die Füße.
Ob die Schäden an Unterwasserleitungen in der Ostsee – wohlgemerkt in deren internationalem und im Prinzip frei zu befahrendem Teil – tatsächlich durch solche Schiffe ausgelöst wurden, muss sich zeigen. Und was daran Auftrag, Schluderei der Mannschaft oder Folge der Gammeligkeit dieser Schiffe ist, wird im Einzelfall zu gewichten sein müssen.
Mit solchen Kleinigkeiten halten sich die Meeressheriffs aus Brüssel aber nicht mehr auf. Sie dehnen vor dem Hintergrund dieser Vorfälle ihren Kontrollanspruch auch über diejenigen Teile der Weltmeere aus, für die sie strenggenommen nicht zuständig sind: Die Vorstellung von den »internationalen Gewässern«, die jeder Nation zur Benutzung offenstünden, wird langsam zu einer historischen Reminiszenz. Es ist erkennbar, dass die Verdichtung der maritimen Kontrollen unter dem Vorwand der Bekämpfung von Kabelstörungen diesen Zugriff über die eigenen Grenzen hinaus intensivieren will und soll. Von dort ist es noch ein Schritt bis zu einer Seeblockade von St. Petersburg. Und die ist nach dem Völkerrecht ein legitimer Kriegsgrund. Für Russland.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (31. Dezember 2024 um 12:04 Uhr)Während früher Odysseus und seine tapferen Freunde mit Ruderbooten und einem gehörigen Maß an Gewalt über das Meer schipperten, sind es heute Schattenflotten, die unter den wohlklingenden Flaggen von Staaten agieren, deren Existenz man bestenfalls beim Pub-Quiz erraten könnte. Die Piraterie hat die Galeeren längst gegen rostige Frachter ausgetauscht, und statt Amphoren mit Olivenöl werden nun Container mit Ammoniumnitrat verschifft. Fortschritt, wie er im Buche steht! Früher war der Pirat ein geradliniger Schurke, der ohne großes Tamtam ganze Kolonien gründete und sich mit dem ersten besten Aristokraten in die Tasche steckte. Heutzutage ist es komplizierter. Statt den Wogemännern oder Vandalen haben wir nun hochkomplexe Grauzonen und Versicherungsbetrug, der so raffiniert ist, dass selbst Pompeius Magnus den Durchblick verloren hätte. Und während Brüssel sich anschickt, das Völkerrecht auf den Kopf zu stellen und internationale Gewässer mit einem dezenten Meins!-Stempel zu versehen, fragt man sich fast nostalgisch, ob die Vandalen in ihren Galeeren nicht doch ein wenig ehrbarer waren. Am Ende bleibt der westliche Kontrollanspruch – oder wie man es charmant formuliert: die »Sicherheit der Seewege« – eine moderne Neuauflage der Lex Gabinia. Doch anstatt in ein paar Wochen die Piraterie auszumerzen, dehnt man lieber den juristischen Arm so weit aus, bis er fast den Ural erreicht. Sollte die moderne Piraterie irgendwann tatsächlich eine Seeblockade auslösen, wird uns das Völkerrecht mit einem freundlichen Zwinkern daran erinnern, dass es doch mal um den Schutz der Handelswege ging. Aber hey, solange Malta weiterhin Gammelschiffe segeln lässt, die selbst Odysseus als Seelenverkäufer enttarnt hätte, bleibt alles im Lot.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (30. Dezember 2024 um 22:55 Uhr)Statt seine Ladung zum Empfänger zu bringen, reißt sich ein Schiff aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, das – von Indien aus gemanagt – unter der Flagge der Cook-Inseln fährt, lieber den Anker ab, um ein Kabel zu zertrennen, dessen Ausfall niemanden groß stört, weil es Ersatzkapazitäten gibt. Dann begibt es sich in NATO-Gewässer, um sich dort von der finnischen Marine aufbringen zu lassen. Alles natürlich Absicht und bis ins Detail geplant von Putin. Schon möglich. Aber auch wahrscheinlich?
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