Verschlingen und Aneignen
Von Ken MertenDaniel Jules Wansi erhält trotz keines einzigen Treffers 2004/05 einen Festvertrag bei Dynamo Dresden und knipst Elbflorenz in der Folgesaison aus der Abstiegszone; Wansi bleibt dem Verein treu und wird nach seiner aktiven Karriere Nachwuchstrainer; Kameruns Fußballer des Jahres 2001 wird nicht am 1. August 2024 im Alter von 42 Jahren tot in seiner Wohnung gefunden. Zum 75. Jahrestag des Bestehens der DDR präsentiert Ministerratsvorsitzende Katarina Witt den ersten serienmäßig gefertigten Wasserstofftrabanten. Ryan und Seth aus der Serie »The O. C.« landen rangelnd im Pool der Cohens, sie beginnen sich zu küssen. Abseits des Feuilletons und von den Universitäten weitgehend missachtet, wird Fanfiction rege betrieben.
»Etwas nicht zu mögen ist einfach«, schreiben die Herausgeberinnen und Herausgeber des neuen Fanfictionmagazins Danke. »Etwas zu mögen hingegen ist kompliziert. (…) Wir müssen mit dem Gemochten in Beziehung treten, mit ihm verschmelzen, es verschieben, es umarmen, es verändern.« Der Herausforderung hat sich der Berliner März-Verlag angenommen und die schönste Literaturzeitschrift herausgebracht, die ich seit langem in Händen halten durfte: großformatig, das Papier bunt und die Seiten teils so überladen mit Schrift, dass sie sich mit dem Layout überlappt. So, vermute ich zumindest, sahen Fanzines aus, die man mit dem Bibliotheksdrucker vervielfältigt hat. Ich bin Fan.
Marius Goldhorn wagt sich in seiner Geschichte »Metronom« an die »monadenhafte Kosmologie der Pokémon«, so Mazlum Nergiz im Vorwort. Das Pokémon »Piepi« weist den Weg aus dem Pokéball nach draußen, von der Kindheit zur Adoleszenz. Die New Yorkerin Kate Zambreno wiederum hat mit dem zweisprachig abgedruckten »Die Evas« eine Fanfiction zweiter Ordnung verfasst: Nicht die deutsch-US-amerikanische Künstlerin Eva Hesse (1936–1970) ist es, über die sie schreibt, sondern über eine alte Bekannte, eine andere Eva, die wiederum zu Hesse gearbeitet hat.
Evan Tepests Beitrag widmet sich der Ratgeberliteratur. Der Autor (zuletzt erschien das Romandebüt »Schreib den Namen deiner Mutter«) tut sich schwer mit dem Sujet, obgleich er »Ratschläge immer geliebt« habe. »Ein Problem mit Ratschlägen von queeren Personen ist, dass wir meistens selber keine brauchbaren bekommen haben.« Tepest wagt sich trotzdem vor, einer seiner Tipps: »Vielleicht ist es nicht die beste Idee, im selben Jahr das erste Buch zu veröffentlichen, poly zu werden und eine medizinische Transition zu beginnen.«
Berit Glanz widmet sich Nils Holgersson: In »Wildgans werden« fliegt einem Laboranten der Wellensittich Nils zu, der – Parallelen zu Goldhorn und den Pokémons – kommuniziert, indem er seinen Namen piepst und sich nach und nach transformiert.
In »Am Ufer des Sees« (aus dem Französischen übersetzt von Jan Schönherr) der in Ruanda geborenen und in Frankreich lebenden Scholastique Mukasonga scheint eine Geschichts- und Geographielehrerin überzuschnappen: »Wie Sie sehen, meine jungen Damen, ist Afrika dabei, entzweizubrechen«, erklärt sie ihrer verdutzten Klasse. Der Sehnsuchtsort, der die Apokalypse überstehen würde: Wakanda, das antikoloniale Reich aus dem Marvel-Universum.
Dietmar Dath wiederum bedient sich bei der Heftromanreihe »Perry Rhodan« und lässt den terranischen Mutanten Ernst Ellert auf den Mathematiker Terence Tao treffen.
Die Appenzeller Autorin Jessica Jurassica zeigt mit »Die verbotenste Frucht im Bundeshaus« den Beginn einer Affäre zwischen der Journalistin Melissa Ferrari und dem sozialdemokratischen Bundesrat André Béret. Konsensual ja, aber wie Ferrari sich »in Form einer performativen Reproduktion« (Lucien Haug) jene Macht zurückholt, die ihr als Frau verwehrt bleibt, wird in dem Auszug, der mit Sex auf dem Dach der Stabsstelle der Schweizer Landesregierung endet, nicht deutlich.
Die brasilianische Ballonkunst ziert nicht nur das Cover des Magazins, sondern illustriert auch als Bildteil das Heftinnere: Doch die Ballons sind illegalisiert, ein Grund ist Brandgefahr. Claudio, Aktivist und Kenner der Balão-Kultur, berichtet in einem den Bildern beigefügten Interview davon, dass sich entsprechende Vereine darum bemühen, Ballons zu kreieren, die nicht mit Feuer betrieben werden.
Im Essayteil stellt Svenja Reiner mit »More Than Bad Writing« Thesen über Fanfiction auf, ehe Elvia Wilk über »Fannonfiction« anhand einer alten Ferienlagerfreundin zu Wort kommt, die damals unsterblich in John Mayer verliebt war und nicht nur sich, sondern alle um sich herum davon überzeugen konnte, den doppelt so alten Singer-Songwriter irgendwann zu heiraten. »Als Fan verschlingst du dein Material«, heißt es in der Übersetzung von Julia Wolf. »Du verschlingst es und machst es dir zu eigen.« Mariana Enríquez wiederum ist etwas abhanden gekommen: das Interview der argentinischen Musikjournalistin mit Brett Anderson, dem Sänger ihrer Lieblingsband Suede. Einer der Gründe, das Koksen fortan sein zu lassen.
Was den Herausgeberinnen und Herausgebern nach nicht gelassen werden soll: Fanfiction schreiben. Für die nächste Ausgabe des halbjährlich erscheinenden Danke-Magazins wird um Zusendung (bis 23. Februar 2025) gebeten. Das Material, das es anzueignen und zu adaptieren gilt: Johanna Spyris »Heidi«.
Danke – Fanfiction-Magazin, Ausgabe 1, März-Verlag, Basel/Berlin 2024, 144 Seiten, 24 Euro
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Mehr aus: Feuilleton
-
Nachschlag: Er sucht noch
vom 02.01.2025 -
Vorschlag
vom 02.01.2025 -
Arschlecken
vom 02.01.2025 -
Eine Gitarre ist keine Gitarre
vom 02.01.2025 -
Breitmaulfrösche gibt’s hier nicht: Amphibien
vom 02.01.2025