Aufrechtes Zentralorgan
Von Ken MertenJede Literatur beginnt mit einem Krach. Aber selten scheppert es auch sofort im Text, schließlich will man die Leserschaft ja nicht verschrecken. Eine prominente Ausnahme ist die 2011 bei Amazon publizierte und vier Jahre später mit Matt Damon in der Hauptrolle verfilmte Robinsonade »The Martian« (»Der Marsianer«) des US-Amerikaners Andy Weir. »I’m pretty much fucked« lautet da die erste Zeile, der unumwundene Verweis aus der Egoperspektive auf die missliche Situation des sich verschollen wissenden Raumfahrers Mark Watney.
Mit deutlich größerer sprachlicher Musikalität stellt auch Michael Sollorz in seinem Roman »Abel und Joe« das erregende Moment (betont sei das Adjektiv!) auf Seite eins oben aus: »Die Glocken der Galiläa-Kirche schlugen sieben, als Abel in seine Straße bog. Seine Eier taten ihm weh; er hatte den Schwanzring zu lange getragen.« Damit ist der Anfang getan, und niemand kann behaupten, nicht darüber unterrichtet worden zu sein, dass es fortan explizit zugehen wird.
Nicht aber ohne Grund und aus reiner Ergötzung am Schwulenporno: Denn Abels Partner Joe ist ein wenig prüder als der promiskuitive Ostberliner, und vielleicht mag Abels sexuelles Abenteurertum dazu beigetragen haben, dass Joe auf einmal fehlt. Der kommt aus katholischem Elternhause und entwuchs einem westdeutschen Örtchen mit dem drolligen Namen Bad Beichte. Eine Romanze in den frühen 1990ern also, die vom Umgang von Ost und West miteinander zeugt, nachdem die Grenze aufgehoben und der Sozialismus abgeschafft wurde.
So sehr Abel damit hadert, so freut ihn doch, Joe zu haben: »Und wenn morgen die Mauer wieder steht, bist du endlich am rechten Platz. Mitgefangen, mitgehangen …«, scherzt Abel und erfreut sich gleichsam der neuen Gesamtberliner Männerschaft ausgiebigst. Während der hedonistische Filmkritiker sich manisch und trotzdem leicht ablenkbar auf die Suche nach Joe begibt, wühlt Abel in seinem Hirn nicht nur nach alten Liaisons und Begegnungen beim Cruising, er schaut ganz geflissentlich in Bars und Saunas nach seinem Geliebten, nimmt ganz nebenher eine Fülle an Kristallweizen und erigierten Penissen zu sich.
Dabei morphen neue Bekanntschaften und alte Vertraute ineinander; mal will Abel Joe erkennen, mal Gustav, den Schweden, den er vor der Konterrevolution in Westberlin bei einem Filmfestival kennenlernte und sich damals schweren Herzens gegen ihn und für die Heimkehr in die Heimat DDR entschied. Dort, wo die AIDS-Pandemie scheinbar an der Grenze haltmachte: »Nicht, dass keiner von der Krankheit gewusst hätte. Doch wie alle betrüblichen Dinge, von denen die Zeitungen schrieben, begab sich auch die Krankheit anderswo.« Jede Presse aber lässt sich zu lesen lernen anhand dessen, wie es, was und was nicht in ihr steht: »Gewusst und nicht gewusst« habe Abel durch sie, habe, wie so viele überall, »wissen wollen und nicht wissen wollen, glauben können und nicht wahrhaben müssen«.
Sollorz gibt seinem somnambulen Ritt zu Schwanze, der vor 30 Jahren erstmals beim Berliner Verlag rosa Winkel erschien, nur knapp 150 Seiten, die es aber in sich haben. Der Neuauflage des sprachlich so dichten wie humoresken Romans ist ein Brief von Katja Oskamp angehängt. Die Dramaturgin und Schriftstellerin (jüngst: »Die vorletzte Frau«) weist mit viel Witz auf die Vergesellschaftung hin, die Sollorz mit »Abel und Joe« vornimmt: »Sexueller Kommunismus« ist es, wenn sich Abel »frei von Angst, frei von Verstellung« ins lustvolle Getümmel begibt und dabei stets beides tut: »vögeln und denken«. Beides zusammen bringt für Abel die melancholisch wie Mut machende Feststellung: Alles ist vergänglich. Heißt auch, das Schöne kann anders wiederkommen, man muss nur standhalten. Oder wie Oskamp schreibt: »Die Mauer ist gefallen, aber Abels Schwanz steht, sein neues Zentralorgan.«
Michael Sollorz: Abel und Joe. Mit einer Betrachtung von Katja Oskamp, Albino-Verlag, Berlin 2024, 156 Seiten, 22 Euro
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