Ein Kaktus auf dem Schreibtisch
Von Ken MertenMaren Kames’ »Hasenprosa« liegt irgendwo zwischen »Alice in Wonderland« von Lewis Carroll und Hunter S. Thompsons »Fear and Loathing in Las Vegas«. Sie beherbergt u. a. ein anthropomorphisiertes Tier als Compagnon wie in Marc-Uwe Klings »Känguru-Chroniken«, aber eines, das nicht so erzwungen schelmisch daherkommt, sondern weit subtiler witzelt und Wahrheiten vertellt. Das Buch ist da und nicht da, es ist schier überall.
»Das mit dem Hasen ist rückwirkend betrachtet doch der Sommer der Anbahnung, der Maserung gewesen. Subkutan mauserte sich alles, äste sich unterholz vorwärts durchs Gras zu einer wie insgeheim vorgesehenen Stelle, suchte sich je eine behutsam ausgebuchtete Mulde und narbte dort friedwärts verabredet ganz langsam zu. Dabei hatte alles seine Zeit, schien es rückwärts bedacht, und nicht wenig davon, aber ich ahnte nichts. Unbeschrieben schritt ich fort, in meinen Meilenstiefeln dahin, meinen Reisesocken auf und davon.« So beginnt die »Hasenprosa«, ein romanhaftes Werk ohne Gattungsbezeichnung. Der Roadtrip einer Ich-Erzählerin, deren Namen der flauschig-rechthaberische Begleiter so nebenbei und rückwärts leakt: Sie trägt denselben wie die Autorin.
Die hält teils Sätze W. G. Sebaldschen Ausmaßes parat: »Ich bin mit dem Hasen auf der Rückbank in einem traktormäßigen Leihwagen durch eine Gegend gefahren, die Hollywood war oder eine andere abgewrackte, baracke Traumfabrik, der Hase hat immerzu gepfiffen wie ein Kessel unter Druck, wobei Kessel wie Karosse selbstverständlich zerbeult, und alle schepperten mit ihrem Blech, als wär’s ein Krachwettbewerb, auch die Rohrsysteme draußen pfiffen wie chorisch aus ihren rostigen Verschlussklappen, ich konnte mich kaum fokussieren auf das, was vor der Scheibe vorüberzog und weg war, es war alles im selben Moment verschwunden, in dem es erschienen war, eine vollends unnütze Fahrt ist es gewesen, es war so Schmach.« Wie es sich bei einer Reisegeschichte gehört, wechseln fortwährend die Handlungsorte: Das dystopische L. A. ist gar nicht so wirkmächtig, zentraler ist dagegen Westdeutschland, insbesondere eine Region dort, die im Buch »Waldhessen« heißt. Die Bundesrepublik (Bonner wie Berliner) ist auch eigentliches Zentrum von Essay wie Handlung: Die Gegenwartsreflexionen zum Krieg in der Ukraine und direkt danach anschließend zum Abzug der USA aus Afghanistan mit dem anschließenden Hineinstoßen der Taliban ins Kabuler Machtvakuum scheinen trotz Fließtext collagiert, wechselt die Passage doch fließend vom »großen Bild« zu einem Glas Wein auf der mütterlichen Gartenterrasse bei Billie Eilish und Terz ums Essen.
Postmoderne Faxen? Wären es, wenn sich das Werk in syntaktisch waghalsiger Sprachspielerei erschöpfte und aus möglichst reißerischen Flicken bestünde. Das Arrangement, mit seinen direkten oder indirekten Verweisen auf Granden ihrer Fächer wie Antonin Artaud, Roland Barthes, Friederike Mayröcker und Lionel Messi, kreist aber um ein Sujet, das Weltkern und Kernwelt zusammen ist: die Familie. Kames lässt Maren erzählen von Leben und Sterben ihrer Großeltern, dem suchthaft fremdgehenden Opa, der sich in Konkurrenz zu ihrer Schwiegertochter setzenden Oma; sie erzählt vom gesellschaftlichen Überflüssigwerden der Frauen in der Familie, sobald sie nicht mehr Mutter und Hausfrau sind. Und sie erzählt vom Konkurrenzverhältnis zu ihrer Schwester, an der Maren stets gemessen wurde, zu »kompliziert«, zu in sich »gewunden«, sei sie im Vergleich, die Enkelin, die vorgibt, kein Fleisch mehr essen zu wollen, nur um allgemein weniger essen zu können und so abzunehmen. Natürlich gibt es den Ahnen, einen Oma-Bruder, der »angeblich jüngster Freiwilliger in der Leibstandarte SS Adolf Hitler« war.
Entpuppt sich der Hase letztlich als hasenförmig gewachsener Kaktus auf dem Schreibtisch (Fotos der Hauspflanze hat die meist interdisziplinär arbeitende Maren Kames natürlich in »Hasenprosa« eingefügt), eine Art stachliges Tischmikrofon, dann ist längst deutlich geworden, dass man mit »Hasenprosa« ein wustig-kluges, sprachgewaltiges Selbstgespräch vor sich hat, von einem unisolierten Hirn erdacht, das aus den Hirnwindungen vieler ist, und seien es die eines neunmalklugen Hasen. Maren Kames’ »Hasenprosa« ist eine sich kitschlos an Traumata heranwagende Familienaufstellung inmitten des Gerümpels der Jahrzehnte, der Wirren der Gegenwart und der Kräfte der Poesie.
Maren Kames: Hasenprosa. Suhrkamp, Berlin 2024, 182 Seiten, 25 Euro
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