Weber ohne Aufstand
Von Aljoscha WeskottUm sich dem Leben eines Paares in einer Pariser Wohnung zu nähern, eröffnet Georges Perec seinen Roman »Die Dinge« (1965) aus einer Bodenperspektive: »Zuerst würde der Blick über den grauen Teppichboden eines langen, hohen und schmalen Korridors gleiten.« Marc Lunghuß’ Romandebüt »Am Boden« nimmt diese horizontale Blickachse auf, um das Verhältnis von Teppich und Mensch am Beispiel seines Vaters, eines Teppichbodenvertreters, durchzuarbeiten. Lunghuß hat dafür einen besonderen Ereignisraum gewählt: Es ist ein Zeitraum von sechs Tagen – zwischen dem Tod und der Beerdigung des Vaters. Zahlreiche Konflikte bahnen sich auf der Spurensuche an. Ein psychoanalytisches Grundmotiv wird von dem Ich-Erzähler angedeutet: Warum ist der Vaterkonflikt per se unvermeidlich? Wichtiger aber noch: Verschwindet der Mensch in der Dingwelt, als verdinglichtes Anhängsel seines Fetischismus? Oder erschließt sich über die Dingwelt nicht erst das Menschliche des Vaters? Literatur ist hier forensische Forschung und ästhetisches Spiel des Teppichs zugleich. Es ist ein Entwicklungsroman, aufgeteilt in 24 Episoden, der das Sujet »materielle Dingkultur« in Teppich-Mensch-Relationen entfaltet; mal mit ins Groteske, Absurde und Humoristische entgleitenden Geschichten, mal mit konsequenter Beschreibung des Materials Teppich. Lunghuß arbeitet dabei nicht an einer literarischen Verlebendigung des Teppichs. Aber er erreicht Zonen, in denen das Material so stark animiert wird, dass es agiert – etwa über Spukerscheinungen des Teppichs.
Als gelernter Weber weiß der Vater um die Knüpftechniken, die sich mit der Kunstgeschichte verbinden. Der Teppich als Faszination und perfekt zu vermessendes Flächengebilde. Gewebt, gewirkt oder getuftet. Der Vater wirkt wie ein Semiotiker der Teppichtexturen. Und radikaler ästhetischer Vorreiter einer Schöner Wohnen-Kultur, in der die Welt als buntes Teppichland aufflackert: Er ist mit dem Gegenstand Teppich verschmolzen, denn diese Welt braucht plüschige Komfortzonen. Jedes Terrain ist teppichkompatibel. Auch der nervige Rasen im Garten? Lunghuß stellt diesen Fetischismus aus. Der Handlungsreisende ist viel unterwegs in den 80er Jahren, so mancher Teppichdeal konnte abgeschlossen werden. Arbeitete der Vater vielleicht an der Einlösung eines Versprechens der Moderne, dass aus dieser erkalteten Welt hin und wieder etwas Wohnliches herauszuholen wäre?
Lunghuß inszeniert auch sein Drama im Teppich: »Ich entfernte den Teppichboden, den sich mein Vater immer für seine Citroens zurechtschnitt, um damit den Kofferraum auszulegen.« Auch dort, kein Geheimnis. Dann findet er Essensmarken des Vaters, die er in entlegenen Currywurstbuden einlöst: Auch dort keine neuen Erkenntnisse über den Vater, aber Teppich. So entsteht ein skurriles Teppichmosaik aus Erinnerungen. Irgendwann muss der Vater von dem Teppichboden eingewickelt worden sein. Auch über das Ökonomische: Das Eigenheim, abbezahlt von Teppichboden, heißt es im Roman.
»Am Boden« spielt mit der libidinösen Besetzung von Fetischobjekten – ein Citroën DS, die »déesse« aus Roland Barthes’ »Mythen des Alltags«, fährt nicht zufällig durch den Roman. Lunghuß collagiert und erweitert die Geschichte seines Vaters. Eine konsequente autofiktionale Operation. Lunghuß’ Roman ist an den Stellen am stärksten, wenn über die Methode der Beschreibung das Material Teppich so schillernd wird, dass sich Zeitfenster öffnen und BRD-Bilder beiläufig wie Wolken vorbeiziehen. Das hat nichts Sentimentales. Der Roman tappt nicht in die Falle der nostalgischen Verklärung, die BRD bleibt konsequent ein unlebendiger, monokultureller Raum, gerade im Hinterland Hannovers. Aber wer ist dieser Vater? Ein Mann seiner Klasse? Nein. Er ist eher Ästhetizist und Kurator eines teppichverhangenen Lebens, kein Arbeiter. Über den Teppich gibt er den Menschen eine Bodenhaftung. Der Ich-Erzähler verzweifelt daran, ist getrieben von seiner Verachtung gegenüber dem Vater, obwohl dieser kein klassischer Tyrann ist wie etwa in Édouard Louis’ Buch »Das Ende von Eddy«, sondern ein gutmütiger Teppichliebhaber. Er ist kein Mann ohne Eigenschaften, sondern ein Teppich gewordener Humanoid.
Das Problem ist: Jeder Teppich verkleinert den Raum. Der Teppichboden ist das Prozac des Kleinbürgertums. Das produziert die Fluchtbewegungen des Ich-Erzählers hin zu den Holzböden des Theaters. Denn der Teppich als Sedierung des Politischen, als Terrain der Gemütlichkeit in westdeutschen Wohnstuben, wo so manches Cognacglas verschüttet wurde, eröffnet allein ein Kammerspiel des Privaten. Ganz andere Schattenseiten des Teppichs sind Schmutzspuren aller Art und die komplizierte Reinigung, die Wellen und Beulen, dazwischen Teppichkäfer, die in den Tiefen des Teppichs ein Ökosystem entdecken. Alles versammelt sich im Teppich. Nicht nur der Staub und die Bakterien, die den Teppich zur ultimativen Dreckschleuder machen. Eine Zuschreibung, von der sich die Teppichbodenindustrie nie wieder erholen konnte. Da nützt auch der Teppich für Allergiker wenig. Ein Abschied von der Blütezeit des Teppichbodens beginnt. Der Parkettboden obsiegt seit den 90er Jahren.
Der Roman fällt auf den Boden der Tatsachen: Es konnte beim besten Willen kein Bild des Vaters entstehen, was mehr Bestand hätte als ein Fetzen Teppich. Sind es nicht die Dinge, die an einen glücklichen Ausgang glauben? Lunghuß’ Roman erfüllt diesen Wunsch. Der Teppichbodenhändler wird in einem Sarg aus Teppich liegen, ausstaffiert im Innenraum des Sargs und zugleich fixiert als flauschige Außenhülle. Das hat etwas Pompöses. Es ist nicht die traurige Abschiedszeremonie aus »Tod eines Handlungsreisenden«, die der Ich-Erzähler beschwört, sondern erinnert eher an Douglas Sirks Schlussszene aus »Imitation of Life.« Und dann, nach der Zeremonie, verlässt der Vater auf wundersame Weise seine eigene Beerdigung. Er öffnet den Kofferraum seines Citroëns und legt dort seinen Teppichmusterkoffer hinein. Es ist eine schemenhafte Vater-Fata-Morgana des Ich-Erzählers. Ein Traumbild, das träumen macht, dass seine Reise weitergehen könnte.
Marc Lunghuß: Am Boden. Bärmeier & Nikel, Berlin 2024, 192 Seiten, 24 Euro
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