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Aus: Ausgabe vom 13.01.2025, Seite 8 / Inland
Hanau und die Folgen

»Das Risiko wurde einfach in Kauf genommen«

Anschlag in Hanau: Vater eines Opfers stellt wegen Notrufdesaster Strafanzeige gegen leitende Polizeibeamte. Ein Gespräch mit Jakob Migenda
Interview: Gitta Düperthal
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Gedenkstätte für den getöteten Vili-Viorel Păun in Hanau (9.2.2022)

Knapp fünf Jahre nach dem rechten Anschlag von Hanau hat Niculescu Păun, Vater des Opfers Vili Viorel, erneut Anzeige gegen drei leitende Polizeibeamte in Hessen erstattet. Was ist der Vorwurf?

Vili-Viorel Păun hatte an jenem Abend in Hanau mehrfach versucht, die 110 zu erreichen. Sein Notruf kam nicht durch. Beim Versuch, dem Täter zu folgen, wurde er in seinem Auto ermordet. Sein Vater hatte zunächst Anzeige gegen die Polizei als Ganzes gestellt. Die Staatsanwaltschaft wies das aus formalen Gründen zurück, weil auf der Anklagebank individuell benannte Personen sitzen müssen. Aber diese Verantwortlichkeiten hätten im Zuge der Ermittlungsarbeit geklärt werden müssen. Diesen Einblick in Befehlsstrukturen der Polizei können die Angehörigen nicht haben. Jetzt stellte er erneut Strafanzeige, namentlich gegen Beamte, die zur Tatzeit in leitender Position waren und somit verantwortlich für das Notrufdesaster: Roland Ullmann, damals Polizeipräsident von Südosthessen, Jürgen Fehler, Polizeidirektor im Main-Kinzig-Kreis, und den mutmaßlichen Leiter der Abteilung Einsatz.

Wie genau stellt sich das Notrufdesaster dar?

Durch die Aufarbeitung der Initiative 19. Februar und des Untersuchungsausschusses im Landtag wurde klar, dass der Notruf schon jahrelang nicht funktioniert hatte. Den Beamten ist vorzuwerfen, ihre Sorgfaltspflichten verletzt zu haben, weil sie von dem personell und technisch mangelhaft ausgestatteten Hanauer Notruf wussten oder aber hätten wissen müssen. Man hatte das Problem auf einen Tag in ungewisser Zukunft verschoben, wenn mit einem Neubau der Wache eine neue Notrufanlage eingerichtet worden wäre. Das Risiko für die Bevölkerung wurde einfach in Kauf genommen.

In welcher Lage befand sich Vili-Viorel Păun am Abend der Tat?

Der rassistische Täter suchte damals an zwei Tatorten aktiv nach Opfern, zuerst in der Innenstadt. Von dort aus folgte ihm Vili-Viorel Păun, wobei er mehrfach erfolglos den Notruf anrief. Deshalb konnte der Täter dann auch in Hanau-Kesselstadt mehrere Menschen ermorden, darunter Vili-Viorel Păun, und am Ende Suizid begehen.

Hätte er noch leben können, wenn der Notruf erfolgreich gewesen wäre?

Hätte der Notruf funktioniert und die Polizei ihre Arbeit gemacht, hätte sie ihn aufgefordert, sich zum Selbstschutz zu entfernen. Damit wäre er heute wahrscheinlich noch am Leben. So wie vermutlich auch weitere Opfer, die der Täter am zweiten Tatort erschoss.

Im Abschlussbericht zum Untersuchungsausschuss des Landtags ging es auf 642 Seiten um Fragen wie die, was die Behörden über den Täter und dessen Vater wussten. Konsequenzen gibt es aber bis heute nicht. Verstehen Sie die Unzufriedenheit der Angehörigen der Opfer?

Vollkommen. Auch auf Fragen der Linksfraktion im Landtag hin wurde gemauert, die Landesregierung blieb Antworten schuldig. Es gilt, den Umgang mit Opfern zu verbessern und um eine angemessene Bewertung. Die Angehörigen dürfen nicht mit einer geringen Entschädigung abgespeist werden. Es braucht eine von der Polizei unabhängige Polizei- und Bürgerbeauftragte. Seit 2020 ist dafür noch niemand eingestellt worden. Beim Waffenrecht muss nachgebessert werden. Der Täter hatte, und das war der Polizei bekannt, bereits eine Sexarbeiterin mit der Waffe bedroht. Es kann nicht sein, dass Personen, die schon auffällig wurden, privat Waffen besitzen.

Wer steht politisch in der Verantwortung?

Der damalige hessische Innenminister Peter Beuth von der CDU hatte die Verantwortlichen sogar noch befördert. Ullmann wurde Landespolizeipräsident, Fehler Leiter der Abteilung Einsatz im hessischen Präsidium. Die CDU hat ein strukturelles Problem: Sie propagiert Recht und Ordnung, ist aber außerstande, Menschen vor Rechtsterroristen zu schützen. Man rüstet die Polizei militaristisch auf, lässt aber zu, dass keine funktionierende Notrufanlage für die Bevölkerung existiert.

Jakob Migenda ist Landesvorsitzender von Die Linke Hessen

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